Ein Fiebertraum


— kein Zeitungsbericht. Der Männergesangverein in Rom. Flackernd sucht mein Blick das Gräßliche. Empfang auf dem Kapitol — meinetwegen. Besuch im Vatikan — es sei. Das Hallodri-Quartett im Mausoleum des Augustus — habeat sibi. Aber da — oh — Nachtkonzert — im — — Kolosseum! ... Stand Caracalla nicht auf? Und winkte er nicht seinen Bestien, deren Gebrüll durch die Jahrtausende tönt, feierlicher als der Gesang der Rechnungsräte? Erbleichte der Mond nicht? Zog er sich nicht zurück? Saß die Kaiserin nicht auf ihrem Sitz, ihn vor Entweihung durch die Frau Hadrawa zu schützen? Und du, unerforschliche Vorsehung, ließest es zu, dass sich Herr Dworatschek zwischen den Trümmern schlängelte, und dass es, als sich Herr Ackerl in die Arena legte und unter der Leitung des Chormeisters Keldorfer Storchs »Nachtzauber« ertönte, »einen unbeschreiblich magischen Eindruck machte«? Oh du würdeloser Weltgeist, wie ließest du das geschehen! Wo war denn dein Reibsackl? Nimmermehr wird ein Romsucher seinen Fuß in dies geschändete Heiligtum setzen. Denn hier, wo die Vergangenheit mit Jahrlegionen in die Mondnacht einzubrechen schien, wird die Stille nicht mehr nur mit den Stimmen wilder Tiere zu uns reden — hier stand im Halbkreis der Wiener Männergesangverein! Und die Italiener — nicht Römer waren es — riefen: »bis, bis!« Das tun sie immer. Stünde Heliogabalus auf, er müßte zugeben: Das Maiprogramm hat dem Kolosseum einen vollen Erfolg gebracht ... Ach wäre der Bericht hier zu Ende! Sie haben in der Weimarer Fürstengruft gesungen; wo immer ein Denkmal irdischer Größe steht — sie werden davor singen. Das Leben will es. Oh dass der Bericht hier zu Ende wäre! Aber nun entsetze sich, wer Menschengräuel überwunden hat, staune, wer dem Triumph des Philisters über Länder und Meere, der Macht des Hausmeisters über Raum und Zeit eine Grenze gewußt hat, erstarre, wer geglaubt hat, ein Gesangsverein im Kolosseum sei das letzte Wunder. Denn hier — schließt euer Ohr Wände der Ewigkeit, verstumme Echo, erblinde strahlendes Auge der Nacht — hier deklamierte zum Schlüsse Vereinsmitglied Rezitator Weiser ein Bruchstück aus dem »Tod des Tiberius«. »Jedes Wort war in dem weiten Raume deutlich vernehmbar. Es waren unvergeßliche Impressionen, unter denen die Wiener am ersten Abend in Rom standen.« — Oh du gerechter Gott im Himmel, wenn du mir noch Atem gibst, hienieden zu sein; wenn es noch Gebot ist, unter den Menschen zu leben, und nicht Pestilenz und Krieg kommt als Strafe solcher Taten, so gib Rat, wie man in der Lage sich verhalten soll, um nicht schuldig zu sein, wenn man dereinst vor deinem hohen Richtersitz bekennen muß: Auch ich war ein Wiener!

 

 

Nr. 324-25, XIII. Jahr

2. Juni 1911.


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