Krankenstatistik
Unter wesentlich günstigeren Umständen als der arme Doktor Franz in Riedau praktizieren die Wiener Ärzte. Vielleicht nimmt man es auch ihnen übel, wenn sie einen Typhusfall zur pflichtgemäßen Anzeige bringen; sicher aber legt man ihnen kein Hindernis in den Weg, wenn sie ein Übriges tun und so gewissenhaft sind, das Geheimnis eines Patienten auch in weiteren Kreisen bekannt zu machen. Man betrachtet eben in Österreich die Enthüllung einer Epidemie als Verrat des ärztlichen Geheimnisses und unterstützt die Bemühungen jener Ärzte, die sich von angeborner Geschwätzigkeit oder aus Rachsucht dazu bestimmen lassen, die erforderlichen Schritte zur Publizierung der Ordinationserlebnisse zu unternehmen, und die sich durch keine Rücksicht, aber auch durch keinen Versuch einer Einschüchterung, »ja nicht einmal durch die Furcht vor Vernichtung ihrer bürgerlichen Existenz«, von der Erfüllung ihrer Pflicht abbringen lassen. Geschieht ihnen dann doch einmal etwas, wird ihnen etwa ein Roman verboten oder mischt sich gar jene Körperschaft hinein, die als berufliche camera caritatis lieber ein Auge zudrückt als es einer Krähe auszuhacken, so halten sie sich für ein Opfer ihres Berufs und beklagen sich darüber, wie wenig Verständnis an den maßgebenden Stellen ihrer gemeinnützigen Tätigkeit entgegengebracht werde und wie wenig Dank die rückständige Öffentlichkeit jenen wisse, die doch so viel zu ihrer Aufklärung beigetragen haben. Ob die Anzeige eines Typhusfalls ein Eingriff in das Privatleben ist und die Abfassung von Memoiren eine behördlich vorgeschriebene Pflicht, das Publikum hierzulande weiß es nicht mehr, und die ärztliche Ethik, die man durch gelegentliche Kontrolle kopfscheu gemacht hat, kann sich nur helfen, indem sie von Fall zu Fall je nach den Umständen und Verbindungen urteilt. Sicher ist, dass sie den offenherzigen Zeitungsnotizen sympathisch gegenübersteht, welche ein Wiener Sanatorium von Zeit zu Zeit über seinen Bestand an Patienten veröffentlicht. In den Wochen, da sie es beklagt, dass man einem armen Landarzt, der einen Typhusfall angezeigt hat, die Fenster einschlägt, findet sie es durchaus erfreulich, daß ein großstädtischer Sanatoriumsbesitzer dem Publikum seine sämtlichen Patienten vorstellt. In Riedau wurde die Krankheit genannt, aber nicht der Kranke, und der Arzt mußte es dennoch mit dem Tod büßen. In Wien wird bloß die Neugierde geweckt, an welchem Leiden wohl der Mr. Fleischmann aus San Franzisko oder die Mme. Balabanoff aus Tomsk darniederliegen mag, und die Teilnahme wird rege, weil die Familie Nanopulos-Karmiropoulou aus Alexandrien noch immer in der Liste geführt wird, und die Hoffnung, daß es dem Herrn Abramoglou aus Konstantinopel schon besser geht und daß der Ritter von Urschitz aus Padua bestimmt davon kommen wird, wenn auch mit etwas weniger Geld, während man überzeugt ist, dass der Senator Schmer aus New-York entschieden abgenommen hat, und sich das Interesse schließlich den »zahlreichen Angehörigen der österreichisch-ungarischen Monarchie« zuwendet, die zwar nur summarisch genannt werden, aber was immer ihnen fehlen mag, auf die Teilnahme der ganzen Völkerfamilie rechnen dürfen. Ich selbst war neulich nahe daran, mich bei Herrn Professor Noorden telephonisch zu erkundigen, ob es sich in der Mehrzahl bloß um eine Entfettungskur handle oder Gottbehüte um Zucker, und in diesem Fall eine tabellarische Aufstellung nach Prozenten und Vermögensklassen zu erbitten. Da es aber immerhin möglich war, daß sich Herr Noorden auf das ärztliche Geheimnis zurückgezogen hätte, und ich mich doch nicht blamieren wollte, so unterließ ich die Anfrage. Ich glaube, daß aus einem Mann wie Noorden nichts herauszubringen ist. Wollte man ihm aber bedeuten, daß ein Arzt, der die Insassen seines Wartezimmers auf der Gasse ausrufen läßt, das ärztliche Geheimnis verletzt, so dürfte er entgegnen, es handle sich um kein Wartezimmer, sondern um ein Hall und es handle sich um kein Sanatorium, sondern um ein Hotel. Folglich können die Patienten von Glück sagen, daß sie in eine Liste und nicht — wie eine naheliegende Möglichkeit immerhin befürchten läßt — in einen Roman kommen. Denn ein Zimmerkellner kann zwar eine lndiskretion begehen, aber man kann nicht gut sagen, dass der Verrat seines Berufsgeheimnisses ein Standesdelikt sei. Der zufällig graduierte Hotelier ist sicher so entgegenkommend, die Passagiere auf jene Möglichkeit aufmerksam zu machen, und über die Einrichtung der Fremdenliste hat sich noch kein Fremder beschwert, der nicht gerade auf ein Stundenzimmer kapriziert ist, und keine Fremde, die nicht gerade ein Wochenbett zu beziehen wünscht. Und weder das eine noch das andere ist im Cottage-Sanatorium zu haben, es ist ein solides Hotel, bitte sehr, in dem der Gast sich wie zuhause fühlt, und wo man einmal dem Stubenmädchen läutet, zweimal dem Arzt und erst beim dritten Mal der Universitätsprofessor erscheint, um nachzusehen, um wie viel Kilo, Prozente oder Kapital der Herr von Nr. 213 abgenommen hat. Wäre es anders, handelte es sich um kein solides Hotel, das eine Fremdenliste, sondern um ein unsolides Sanatorium, das eine Patientenliste veröffentlicht, so müßte, bitte gleich, die Ärztekammer beweisen, daß sie kein Hotel-Gremium ist, und die Staatsanwaltschaft müßte sogar ihre Verwandtschaft mit dem Besitzer der Anstalt verleugnen. Vor allem aber müßte dann die Volkszählungskommission einschreiten und die freche Konkurrenz dieser Statistik verbieten, bei der die Leute nicht nur gezählt, sondern auch gewogen werden, und die sich gleichfalls so gebärdet, als ob sie ein wissenschaftlicher Zweck wäre und kein grober Unfug.
Nr. 315/316, XII. Jahr
26. Januar 1911.