Das aparte Innenleben


»(Tagebuchblätter). Ein dichterisches Gemüt bewahrt auch in der kalten dörrenden Atmosphäre der Aktenarbeit sein eigenes Wesen und Leben, und wenn es hinauszieht aus den Räumen mit ihrem drückenden Bann der verwaltungstechnischen Beschäftigung, so regt es gemach seine bunten Schwingen und strebt empor ins farbige Reich der Phantasie, Regierungsrat Dr. S. Freund, ein hoher Polizeifunktionär, hat eine Sammlung von Gedichten und Sprüchen erscheinen lassen, die ›Tagebuchblätter‹ (Verlag von Karl Konegen, Wien) betitelt und dem Polizeipräsidenten Karl R. v. Brzesowsky gewidmet ist. Der Verfasser, tief drin in dem frostigen Gehege dieses Zweiges der öffentlichen Administration, hat es doch vermocht, sich die aparte Innenwelt zu erhalten, die ihm seine poetische Begabung geschaffen. Sein Sehnen, ›das, was (wie er im Vorwort der gewählten Sammlung äußert) im Herzen, in der Seele des Menschen ruht, aus den Tiefen hervorzuholen, sein Gefühlsleben, sein notwendig sittliches und soziales Empfinden darzustellen, die Merkmale wahren Menschentums aufzuzeigen‹, bringt er in den Gedichten glücklich zum Ausdruck, die dieses Schwärmen und Streben nicht nur in sinnfälligen und wohlabgetönten Bildern, sondern auch stimmungsvoll und in anmutiger Form bekunden. Die Sujets sind sehr mannigfaltig. Bald abstrakte Vorstellungen, bald die Wiedergabe von Geschautem in der Natur und im Menschengewühl, findet man aber auch kritische Glossen über Erscheinungen des Alltags, wie sie in mehr oder minder ephemer Art auftauchen, dies ganz besonders in den Sprüchen, deren Tendenz der Autor in dem vorangestellten Motto angedeutet hat, das lautet: Wahrheit zeige dich! — Dich nur suche ich. — Bist verborgen du, — Läßt's mir keine Ruh'.«

Das wollen wir nun gar nicht mal erst aufkommen lassen! Ah da schauts her, ein Regierungsrat will gemach seine bunten Schwingen regen und strebt empor, aber nicht wie man glaubt, sondern ins farbige Reich der Phantasie? Als ob nicht bei Gericht, in den Ministerien, bei der Südbahn schon genug Herrschaften wären, die sich die aparte Innenwelt erhalten haben, um sich gelegentlich darüber in Dramen, Skizzen, Gstanzeln zu äußern. Nämlich über das was wie er im Vorwort äußert in der Seele des Menschen ruht und in der Polizeisprache Gefühlsleben genannt wird. Die Merkmale wahren Menschentums aufzeigen — meinetwegen, solange es bei blond, mittelgroß, proportioniert sein Bewenden hat und den trostlosen Jargon jener Büchel bedeutet, die immerhin ungleich wertvollere Kulturdokumente sind als alles, was je im Verlag von Karl Konegen, Wien erschienen ist. Was das notwendig soziale und sittliche Empfinden anlangt, so äußere es sich darin, dass man Demonstranten auf der Wachstube nicht prügelt und ruhige Kupplerinnen ungeschoren läßt, aber wenn man schon durchaus das Bestreben hat, eine aparte Innenwelt aufzustöbern, lästige Dilettanten verhaftet. Das fehlt nämlich noch, dass die Beamtenkategorie, die dazu berufen ist, das Leben »bedenklich« zu finden, darüber nachzudenken beginnt! Oder dass die Herrschaften, bei denen man Scherereien hat, weil einem ein Pelz gestohlen wurde oder weil Gott sie an die Spitze eines Paßdepartements gestellt hat, ihr Schwärmen und Streben in andern Bildern zum Ausdruck bringen, als in jenen, die ein Verbrecheralbum schmücken. »Bald abstrakte Vorstellungen, bald die Wiedergabe von Geschautem in der Natur und im Menschengewühl, findet man aber auch kritische Glossen«: das reine Erkennungsamt! Die mannigfaltigen Sujets, die Erscheinungen des Alltags, wie sie in »mehr oder minder ephemer« Art auftauchen: das reine Zentralmeldungsamt! Wahrheit zeige dich, dich nur suche ich: das reine Evidenzbureau! Aber im Verkehrsamt muß es nicht klappen, denn während die Funktionäre Verse protokollieren, werden die Passanten von zwanzig verschiedenen Automobiltypen überfahren, und was das Preßbureau anbelangt, so ist es höchste Zeit, dass gegenüber den immer wieder auftauchenden Versuchen, eine Verbindung von Polizei und Schöngeisterei anzubahnen, eine verschärfte Polizeizensur etabliert wird. Ich bin ein Vertrauter, ich habe erhoben, dass die Muse eine bedenkliche Frauensperson ist, nämlich die 1857 aus Wien auf sechzig Jahre abgeschaffte Private Ludmilla Drahokupil, die damals unter sittenpolizeilicher Kontrolle stand und im Salon der bis dahin unbescholtenen 102 jährigen Seraphine Freund, welche nicht befugt war, galante Zusammenkünfte zwischen Herren und Damen der vornehmen Lebewelt herbeizuführen und daraus Nutzen zu ziehen, wobei die vorbestrafte 103 jährige Hilfsarbeiterin Mizzi Brzesowsky (vulgo Kügerl) als Postillon d'amour fungierte und an die Damen und Herren Briefe überbrachte, in denen diese zu einer festgesetzten Zeit eingeladen wurden, trotz wiederholter Beanstandung ein- und ausgegangen ist.

 

 

Dezember, 1911.


 © textlog.de 2004 • 19.03.2024 06:47:29 •
Seite zuletzt aktualisiert: 15.01.2007 
bibliothek
text
  Home  Impressum  Copyright Die Fackel: » Glossen » Gedichte » Aphorismen » Notizen