Abendsonne und Morgenblatt
Während der Komet nur alle siebzig Jahre kommt und die an ihn geknüpften Erwartungen nicht befriedigt, wird ein Haasabend alle zehn Jahre veranstaltet und rechtfertigt vollauf den ihm vorausgehenden Ruf. Denn der Hausherr zeigt sich bekanntlich nicht nur als liebenswürdiger Gastgeber, sondern auch als begabter Schriftsteller und Schauspieler von Talent. Ja, man kann geradezu behaupten, dass sich der Hausherr nicht nur als begabter Schriftsteller und Schauspieler von Talent zeigt, sondern auch als liebenswürdiger Gastgeber. »Ein Haasabend bildet stets ein Ereignis für die Wiener Gesellschaft.« Das ist eine tiefe Wahrheit, die leider zu wenig beachtet wird. Wir haben es in den letzten hundert Jahren oft und schmerzlich genug erlebt, dass ein Ereignis kein Ereignis für die Wiener Gesellschaft war, und wir müssen es dankbar aufnehmen, wenn uns gesagt wird, wer oder was das Zeug hat, ein Ereignis für die Wiener Gesellschaft zu sein. Wir haben erfahren, dass Talente, die über ein geringeres Büfett verfügten als der Baron Haas, in Wien kläglich abgewirtschaftet haben. Vor einem Bilde von Kokoschka werden sonst wohlerzogene Markgrafen ausfällig, fuchteln mit dem Stock und stoßen gefährliche Drohungen aus. Bei der »Abendsonne«, einem Melodram von Philipp Haas, wo der Dämon Macao eine gellende Lache anschlägt und der blinde Bettelmusikant in den Armen seiner wieder gefundenen Familie stirbt, nicht ohne vorher das Lied gespielt zu haben, das Emmi einstens ihrem Vater gewidmet (ohne hat), »geschah es, dass man Fürsten und Prinzen in den letzten Parterrereihen sah und vielfache Millionäre auf bescheidenen Balkonplätzen«. Dass diese Gesellschaft sich nicht damit begnügt, bei einem Teppichfabrikanten gut zu essen, sondern den Unfug seiner Dilettantereien mitmacht und sich am nächsten Tag in der Zeitung ihre Assistenz bestätigen läßt, macht nicht ihren Kunstgeschmack, aber ihre gute Erziehung problematisch. In England würden sie solch verlorenem Standesgenossen zureden, bei seinen Teppichen zu bleiben, der unsaubern Verbindung von Gastfreundschaft und Talent zu entsagen und, wenn Anwandlungen von Kunstsinn unvermeidlich wären, jene Produzenten zu unterstützen, die mangels eines Büfetts sich die Beachtung der zeitgenössischen Kritik nur schwer erringen können. Gewiß, auch ein Haasabend bringt Geld unter die Leute. Aber wie viel Geschmack und Scham muß unterdrückt werden, um den freigebigen Dilettanten nicht das Unhaltbare seiner Position fühlen zu lassen! Hinterdrein schütten sich die Wurmbrandt, Wrbna und Welsersheimb vor Lachen aus und selbst den österreichischen Ministern, die mittun, ist es zuzutrauen, dass ihr Applaus nicht vom Urteil kommt. Diese ganze feudale Claque müßte jene, die sonst ihre Plätze einnimmt, um die Unbefangenheit des ehrlichen Handels beneiden. Denn der Herr Wessely dürfte dem Schauspieler ins Gesicht sagen, er halte ihn für umso talentloser, je mehr er ihm applaudiere, während der Freiherr v. Bienerth einen Haasabend durch keine Aufrichtigkeit stören darf. Das gesellschaftliche Moment allein müßte nicht das Urteil trüben, wenn Kunst und Imbiß nicht in dasselbe Programm fielen; aber ein Mund, der eben anderweitig beschäftigt ist, hat keinen Platz iür eine Grobheit. Dass die hochgestellten Herren, die man in solchem Zustand der Wehrlosigkeit antrifft, nicht auf ein kaltes Nachtmahl angewiesen sind, müßte man glauben; aber da sie es nicht vom dramatischen Genuß separiert und eine Berichterstattung über das doppelte Privatvergnügen zugelassen haben, bleibt Hunger noch unter allen Motiven, die einen Akt der Selbstverleugnung entschuldigen können, das sympathischeste. Die Presse wird sich wohl mit einem Souper nicht abspeisen lassen. Der Bericht des Neuen Wiener Tagblatts über einen Haasabend ist eine Spezialität wie dieser selbst und bildet stets ein Ereignis für die Wiener Gesellschaft. Ober das Morgenblatt dürfen doch selbst die lachen, die bei der Abendsonne ein ernstes Gesicht machen mußten! Denn wenn man das so liest, hält einen keine Etikette zurück:
Nachdem der Vorhang endgültig gefallen, trat eine kurze Pause ein, in der Baron Haas seine Metamorphose zum Bühnenkünstler vornahm. Baron Haas brachte für seine Rolle in der bekannten amüsanten Tschechowschen Groteske alles mit, was sie verlangt: die imponierende männliche Erscheinung, das kraftvolle Auftreten, den schönen Bart, den überlegenen trockenen Humor und eine Feinheit und Degagiertheit des Spieles, wie sie sonst nur routinierte Schauspieler besitzen....
Aber selbst diese bringen zumeist nicht das mit, was der Baron Haas hat, nämlich den schönen Bart. Ja, viele und sogar berühmte Schauspieler, sollen überhaupt keinen Bart haben. So kam zum Beispiel Sonnenthal regelmäßig ohne Bart zur Probe und oft genug, wenn eben die Rolle einen verlangte, zum Beispiel beim König Lear, war man in der größten Verlegenheit, es mußte erst der Friseur geholt werden und es hat dann immer einiger Arbeit bedurft, bis ein passender Bart zur Stelle war. Der Baron Haas hatte ihn gleich mitgebracht. Er dürfte aber — die Kritik hat den Blick dafür — auch sonst noch viel mitbringen, was andere Schauspieler nicht haben.
Nr. 321/322, XIII. Jahr
29. April 1911.