Sieben Gentlemen und eine Zugereiste


»Gestern fand beim Bezirksgericht Margareten (Strafrichter Dr. G.) die Verhandlung statt, in welcher die 19jährige, aus London zugereiste Konservatoristin Gertrude Wright der wörtlichen und tätlichen Amtsehrenbeleidigung angeklagt war. Miß Wright fuhr nämlich am 23. Oktober in einem Wagen der Straßenbahn über die Favoritenstraße. Da sie dem Kondukteur damals einen Fahrschein vorwies, der keine Gültigkeit mehr besaß, wurde sie von ihm aufgefordert, eine neue Karte zu lösen oder den Wagen zu verlassen. Sie tat keines von beiden und der Kondukteur sah sich genötigt, am Rainerplatz den Sicherheitswachmann S. um Intervention zu ersuchen. Nach längerem vergeblichen Zureden, der Aufforderung des Kondukteurs nachzukommen, erklärte sie der Wachmann für arretiert, worauf sie ihm zwei Ohrfeigen versetzte und mit ihrem Geigenkasten den Kondukteur traf ... Kondukteur G. bestätigte die Klagedarstellung. Wachmann S. behauptete überdies als Zeuge, sie habe mit dem Geigenkasten auf den Kondukteur losgeschlagen. Er sei genötigt gewesen, einen zweiten Wachmann herbeizurufen, weil die Angeklagte sich weigerte, mitzugehen. Auf dem Wege zum Kommissariat habe die Angeklagte dann zweimal versucht, davonzulaufen. Am Kommissariat selbst habe sie derartig geschrien, dass niemand mit ihr reden konnte. Der Möbelpacker E., ein Fahrgast, sagte aus, sie habe im Wagen gesagt: ›Eine derartige Wirtschaft wie in Wien gibt es im Ausland nicht.‹ Als die Dame den Wagen verließ, sei sie halb vom Wachmann gezogen, halb vom Kondukteur geschoben worden. Der Zeuge Wemola, ein Hilfsarbeiter, erklärte auf Befragen des staatsanwaltschaftlichen Funktionärs, ob die Angeklagte den Wachmann geohrfeigt oder nur Abwehrbewegungen gemacht habe: ›Das waren schon Ohrfeigen; ich werd' doch die Ohrfeigen kennen.‹ (Heiterkeit.) Die Angeklagte erklärt, sie sei erst am i. Oktober d. J. nach Wien gekommen; der Sprache nicht mächtig, habe sie die Worte des Kondukteurs und des Wachmannes nicht verstanden. Sie habe bereits zweimal Fahrscheine gelöst und dass sie nun noch einen dritten lösen solle, sei ihr nicht eingegangen. In der Aufregung habe sie wohl herumgefuchtelt, doch geohrfeigt und geschlagen habe sie niemanden. Auf Antrag des staatsanwaltschaftlichen Funktionärs Dr. v. K. trat der Richter schließlich den Akt an das Landesgericht ab, da das Verbrechen der öffentlichen Gewalttätigkeit vorzuliegen scheine.«

Der Hebung des Zugereistenverkehrs wird es nicht nützen. Ein besserer Gerichtsbeschluß wäre gewesen, die Wiener Einrichtungen zu ändern, wenn sie so sind, dass sie zu Ohrfeigen und einem Hieb mit dem Geigenkasten führen können. Man muß kein Zugereister sein, um bis zum Wunsche solcher Abwehr zu gelangen, und man muß nicht aus England kommen, um der Sprache dieses Landes nicht mächtig zu sein. Eine Miß, die mit ruhigen Nerven durch dieses Gedränge von Möbelpackern, Straf richtern, Kondukteuren und Funktionären durchkommt, kann von Glück sagen. Der Hilfsarbeiter Wemola trägt auch nicht zur Hebung des Lebensmutes bei. Und dieses Verkehrsleben, bei dem man nur vorwärts kommt, wenn man halb vom Wachmann gezogen, halb vom Kondukteur geschoben wird, ist eine Katastrophe. Und kurzum, der Kulturmensch, dem dreimal etwas abgezwickt werden soll, wird grob. Wenn das Vaterland das nicht verträgt, so ist Zuzug fernzuhalten. Aber Fremde mit dem Wald- und Wiesengürtel anlocken und dann durch die Elektrische schuldig werden lassen, ist gemein.

 

 

Dezember, 1911.


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