Ein Hörfehler


Vor einem Prager Gericht wurde, wie die Neue Freie Presse behauptet, Shakespeare folgendermaßen zitiert:

Dr. W. hob ferner hervor, daß es eine Versündigung an dem Geiste der Strafprozeßordnung bedeute, wenn fertige Urteile in die Verhandlung mitgebracht würden. Wenn man diesem Vorwurf gegenüber darauf verweise, daß dies allgemein üblich sei, so sei dies ein Brauch, »von dem der Brauch mehr ehrt, als seine Übung«.

In Wirklichkeit verhält sich die Sache so: Auf die Frage Horatios, ob das Gebrauch sei (nämlich daß an des Königs Tafel unter Musik und Lärm gesoffen werde), antwortet Hamlet: »Nun freilich wohl: Doch meines Dünkens (bin ich eingeboren und drin erzogen schon) ists ein Gebrauch, wovon der Bruch mehr ehrt als die Befolgung.« Nun besteht ja kein Zweifel, daß in Prag zwar nicht der Wortlaut, aber der Sinn richtig zitiert und gesagt wurde, es sei ein Brauch, von dem der Bruch mehr ehrt als seine Übung. Ferner besteht auch kein Zweifel, daß genau berichtet wurde, was gesagt wurde. Aber die Berichte werden telephonisch übermittelt, und wenn sich zwischen die Aussprache in Prag und das Gehör in Wien solch ein Hindernis stellt, dann kann man für nichts gut stehen. In Prag wurde nämlich ganz richtig hineingerufen: »... so sei dies ein Broch, von dem der Bruch …« In Wien wurde zwar der Broch ganz richtig verstanden, aber auch der Bruch klang wie Broch und wurde infolgedessen als Brauch geschrieben. Telegramme sind, besonders wenn es sich um Shakespeare handelt, verläßlicher. Denn das Telephonieren, meines Dünkens (bin ich eingeboren und drin erzogen schon), das ist ein Broch, von dem der Bruch mehr ehrt als seine Übung.

 

 

Dezember, 1911.


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