»Entführung eines Autotaxi«


Wie herzig das klingt. Und nie noch ist eine notwendiger gewesen als diese:

Ein eigenartiger Diebstahl ereignete sich heute in der Hegelgasse. Der Chauffeur des Mietautomobils A II 681 wollte in dem an der Ecke der Schwarzenbergstraße und der Hegelgasse befindlichen Kaffeehaus eine Schale Tee trinken. Er stellte den Motor seines Wagens ab, ließ den Wagen ohne Aufsicht stehen und ging in das Lokal. Wenige Minuten später kurbelte ein fremder Mann den Motor an und fuhr, bevor er daran gehindert werden konnte, gegen den Ring zu in raschem Tempo davon. Der Chaffeur machte sofort die polizeiliche Anzeige.

Der Dieb, ein Freund des Fortschritts, auf der Stelle bereit, diesen gegen die Ansprüche der seßhaften Wiener Chauffeure zu verteidigen, hat etwas getan, was ihm in diesen langsamen Zeiten hoch angerechnet werden muß. Er fand den typischen Anblick der Automobildroschke mit der vorgesteckten Bestelltafel unerträglich. Er erkannte blitzartig, dass ein Automobil nicht so sehr dazu diene, den Chauffeur ins Beisel, als den Passagier ans Ziel zu bringen. Er für seine Person hätte vielleicht warten können, bis das Schalerl geleert war. Aber er entschied die Angelegenheit rein prinzipiell. Er wartete nicht einmal ab, bis der Wasserer, der Türlaufmacher, der Grüßer und die andern Funktionäre herbeigeeilt waren, die der Wiener Fortschritt aus dem tierischen Betrieb so komplett herübergerettet hat, dass stündlich die Rückbildung des Chauffeurs in den Fiaker zu erwarten ist. Er wollte von nichts wissen, sah nichts, hörte nichts, überlegte nicht, ob es ein billiger oder teurer Wagen sei, einer, dem ein oder zwei Pferde fehlen, besann keines der Wiener Probleme: ob man sich schon an der Grundtaxe ruinieren solle oder erst später, von welcher Gesellschaft der Wagen sei, ob Zick kostspieliger als Watt, rote Fahne gefährlicher als gelbes Rad, und ob der Taxameter deshalb eine ungerade Ziffer zeige, weil man fünf Heller sich weder zurückgeben lassen noch geben kann und somit gezwungen ist, mehr zu geben. Vielleicht zog all dies an seinem Geiste vorüber, er gedachte der Vielen, die da im Leben standen, rasch an ihr Tagwerk gelangen wollten und an dem Widerstand der Chauffeure, die Zeit haben, verbluten mußten, und er beschloß, der Qual ein Ende zu machen, ehe sie begonnen war. Vielleicht auch fiel ihm ein: Der Kerl wird doch einmal herauskommen, aber dann, wenns losgeht, überfährt er mir den Wachmann an der Ecke, der den Straßenverkehr zu regeln hat. Und waren es auch nicht Gedanken, wars nur die Vision von Hindernissen und Gefahren, die ihm das Stilleben dieses verlassenen Autotaxi bot, es riß ihn hin, er kurbelte an, schwang sich empor und ward nicht mehr gesehn. Ein Fahrzeug dient zum Fortkommen, sagte er zu seiner Rechtfertigung. Und weil es ein Automobil ist, kann es sich auch ohne Chauffeur weiter bewegen. Und schneller. Eine Sonderauffassung, die meinen Beifall hat. Nur möchte ich finden, dass dem Verkehr noch besser durch die Entführung der Chauffeure gedient wäre. Denn wenn sie ohne Automobil zurückbleiben und auf dem Trottoir herumstehen, haben wir erst recht nichts vom Fortschritt. Das einzige, was sie »sofort« machen können, ist die polizeiliche Anzeige, und selbst die bringt uns nicht weiter. Wie dem immer sei, nie ist ein Diebstahl organischer aus den bestehenden sozialen Verhältnissen hervorgegangen. Hier ist ein Langfinger auf eine offene Wunde gelegt worden. Mit moralischem Nasenrümpfen wird man dem Mutigen nicht beikommen. Alle Werke des Fortschritts wären ungetan geblieben, wenn die Welt gewartet hätte, bis die Chauffeure ausgetrunken haben.

 

 

Februar, 1911.


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