Der Nachruf


muß — das Handwerk bringt es mit sich — lange vor dem Tod geschrieben sein, damit er unmittelbar nach dem Tod erscheinen kann, und eine Zeitung, die ihn irrtümlich vor dem Tod erscheinen läßt, steht immer noch höher im Ansehen, als eine, die ihn nach dem Tod erst schreibt. Das Odium des Handwerks nehmen jene auf sich, die sich ihm ergeben. Die journalistischen Särge müssen vorher bestellt werden, und der Leser wartet nicht so lange wie der Totengräber. Wer jener Concordia angehören will, die die Leichen schneller bestattet, darf nicht vor der Vorstellung zurückbeben, dass er eines Tages genötigt sein könnte, sich hinzusetzen und in der einen Hand die Telephonmuschel dem Abonnenten zu antworten: Mahler geht's besser, und mit der andern zu schreiben: Mahler ist nicht mehr! Wer's nicht nötig hat, wird diesen Beruf nicht ergreifen. Verächtlich ist er in einer aufgeklärten Zeit so wenig wie der des Henkers. Soziale Notwendigkeiten sind eben notwendig. Verächtlich sind bloß jene, die sich freiwillig in den Dienst solcher stellen, die dafür bezahlt werden. Verächtlich sind Zuschauer einer Hinrichtung, die dem Henker bei seiner schweren und verantwortungsvollen Aufgabe beispringen. Verächtlich sind Hoftheaterdirektoren, die über Gustav Mahler, der am Donnerstag 11 Uhr 5 Minuten nachts gestorben ist, im Freitag-Morgenblatt der Neuen Freien Presse Nachrufe veröffentlichen. Die Hoftheaterbehörde frage unverzüglich die Herren Gregor und Berger, wie der Hergang war. Sie frage den Herrn Gregor, der die Disziplin der Theaterfremdheit hält und hier in Wien im Verkehr mit Schauspielernerven just die Ordnung herstellen will, die der Schutzmann von der Oper nicht erzielen kann: wann er zwischen 11 Uhr 5 Minuten — vorausgesetzt, dass er den Tod Mahlers in derselben Minute erfuhr — und der Drucklegung des Morgenblatts den Satz niedergeschrieben hat: »Nun hat ihn ein unerbittliches Geschick hingestreckt!« Um wie viel Uhr er Betrachtungen über das Universum, über die Bezirke, wo unser Kausalitätsgesetz endet (ich glaube, es sind sämtliche Bezirke Groß-Wiens), angestellt hat. Wann er die von tiefer Bescheidenheit zeugende Erkenntnis ausgesprochen hat, dass wir da, wo Mahler war, jetzt eine Leere empfinden. Die Hoftheaterbehörde frage den Herrn von Berger, der ja mit dem Betrieb der Neuen Freien Presse schon mehr vertraut ist, wie lange er in der Nacht, da Mahler starb, Zeit hatte, um den Metteur nicht aufsitzen zu lassen. Und wie sich das überhaupt abgespielt hat, als der Bote der Neuen Freien Presse nach Hietzing kam, den Burgtheaterdirektor weckte und dieser eine Erinnerung an Mahler niederschrieb, der einmal in Hamburg einer Aufführung des »Doppelselbstmord« beigewohnt hat. Man frage den Herrn von Berger, um wie viel Uhr er das aus dieser Erinnerung entsprungene Wort niedergeschrieben hat: »Und jetzt hat dieser Feuergeist in der heimatlichen Erde dauernd Ruhe gefunden«. In der Nacht seines Todes war Mahler noch nicht begraben. Aber vielleicht war, als Herr v. Berger aus Entgegenkommen für die Neue Freie Presse das Begräbnis veranstaltete, Mahler auch gar nicht gestorben. Wenn die beiden Hoftheaterdirektoren sich wecken ließen, um der Zeitung zu Willen zu sein, so ist das ein schöner Eifer, für den sie die vorgesetzte Behörde loben darf. Aber es besteht der dringende Verdacht, dass die beiden Herren den Tod Mahlers verschlafen haben und dafür schon früher ihre Pflicht erfüllt hatten. Das ist nun ein Punkt, über den selbst die Preßfreundlichkeit einer vorgesetzten Behörde nicht hinüberkönnen sollte. Es mag der Zeiten Schande sein und nicht individuelle Schuld, dass Hoftheaterdirektoren sich um Mitternacht wecken lassen, um für die Zeitung zu schreiben, anstatt sich nicht wecken zu lassen oder wenn es schon geschehen ist, den Ruhestörer hinauszuwerfen und die Kondolenz auf den nächsten Tag zu verschieben. Aber es ist eine für das gröbste und dem Zeitungsgeist dienstbarste Gefühl unerträgliche, schändliche und entehrende Vorstellung, dass Hoftheaterdirektoren beim Tode Gustav Mahlers geschlafen und am Morgen aus ihren Nachrufen erfahren haben, dass er gestorben sei.

 

 

Nr. 324-25, XIII. Jahr

2. Juni 1911.


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