Harmonie - Anteil der Harmonie an der Musik
Es entsteht also die Frage, was für einen Anteil die Harmonie an der Musik habe. Einige Neuere behaupten, sie sei das Fundament der ganzen Musik; sie glauben es sei nicht möglich, dass ohne Kenntnis der Harmonie irgend ein gutes Stück könne gemacht werden. Allein diese Meinung wird dadurch widerlegt, dass die Alten, wie Hr. Bürette sehr wahrscheinlich gezeigt hat,*) diese Harmonie nicht gekannt und dennoch eine Musik gehabt haben. Wem dieses nicht hinlänglich ist, der bedenke, dass viele Völker ohne die geringste Kenntnis der Harmonie ihre Tanzgesänge haben; und dass man überhaupt eine große Menge sehr schöner Tanzmelodien hat, die ohne Bass und ohne harmonische Begleitung sind. Dass die zum Behuff des Tanzens gemachten Gesänge das eigentlichste Werk der Musik seien, daran kann niemand zweifeln, wenn man bedenkt, dass die Bewegung und der Rhythmus, folglich das, was in der Musik gerade das Wesentlichste ist und den Gesang zu einer leidenschaftlichen Sprache macht [s Tanz], in denselben am vollkommensten beobachtet werden. Nun wird Niemand in Abrede sein, dass nicht vortreffliche Tänze, ohne Rücksicht auf die Harmonie, gemacht werden. Also ist die Harmonie zur Musik nicht notwendig; die Alten hatten ohne sie Gesänge von großer Kraft. Doch wollen wir eben nicht mit Rousseau behaupten [Dict. Art. Harmonie], dass sie eine gohische oder barbarische Erfindung sei, die der Musik mehr schadet als nützt [s. Einklang]. Einstimmige Sachen, die von einem guten Bass und einigen Mittelstimmen nach den besten Regeln der Harmonie begleitet werden, verlieren durch die Harmonie nicht nur nichts, sondern gewinnen im Ausdruck offenbar.
Freilich ist ein vierstimmiger Gesang, wenn er nicht vollkommen harmonisch ist, schlechter als ein einstimmiger: aber von einem guten Harmoniker verfertigt und von geschickten Sängern so aufgeführt, dass die Stimmen in einander fliessen und zusammen einen einzigen Gesang ausmachen, rührt er weit mehr. Es ist wohl schwerlich etwas in der Musik, das an Kraft und Ausdruck einem vollkommen gesetzten und vollkommen aufgeführten vierstimmigen Choral zu vergleichen wäre. Und welcher Mensch empfindet nicht, dass ein gutes Duett, ein wohl gesetztes Trio, schöner und reizender ist als ein Solo?
Wir ziehen hieraus den Schluss, dass zwar die Harmonie in der Musik nicht notwendig, aber in den meisten Fällen sehr nützlich sei und dass die Kunst überhaupt durch die Erfindung der Harmonie sehr viel gewonnen habe.
Es ist bereits angemerkt worden, dass die Gesänge der Alten, wenn sie auch von einem ganzen Chor gesungen worden, nur einstimmig gewesen und dass die Sänger alle im Unisonus oder in Oktaven gesungen haben. Man hält dafür, dass der vielstimmige Gesang erst im XII Jahrhundert aufgekommen sei [s. Marpurgs Beiträge zur Musik V Th. 5 St S. 356]. Die Veranlassung dazu scheint so natürlich zu sein, dass man sich verwundern muss, wie man so späte darauf gefallen ist. Es scheint beinahe notwendig, dass ein einstimmiger Gesang von einem ganzen Chor, der aus jungen und alten Sängern besteht, abgesungen, vielstimmig werde. Die Verschiedenheit des Umfanges der Stimmen führt ganz natürlich dahin, dass einige die Oktaven, andere die Quinten oder Terzen der vorgeschriebenen Töne, so wohl herauf als herunter, nehmen, wenn sie die Höhe oder Tiefe, so wie sie vorgeschrieben ist, nicht erreichen können. Dadurch aber entsteht eben der vielstimmige Gesang. Ohne Zweifel aber hat ein solcher Gesang eine Menge der jetzt verbothenen Oktaven und Quinten, Fortschreitungen hervorgebracht. Und vielleicht hat eben dieses Gelegenheit gegeben, die Harmonie im Grunde zu studiren und den Stimmen von verschiedener Höhe die Töne so vorzuschreiben, dass die falschen oder unangenehmen Fortschreitungen vermieden wurden. In der Tat besteht der wesentlichste Teil der harmonischen Wissenschaft darin, dass man zu einem einstimmigen Gesang mehrere Stimmen setze, deren Töne mit der Hauptstimme konsonieren, aber so, dass die Oktaven und Quinten in der Fortschreitung vermieden werden. Dieses scheint also der wahre Ursprung der harmonischen Wissenschaft zu sein. Erst lange danach hat sie eine weitere Ausdehnung bekommen, da der Gebrauch der Dissonanzen aufgekommen und die diatonische Tonleiter durch Einführung der so genannten chromatischen Töne bereichert und dadurch die heutige Modulation eingeführt worden. Dieses gab der harmonischen Wissenschaft einen größeren Umfang, indem man nun die Regeln von dem Gebrauch und der Behandlung der Dissonanzen und von der Kunst zu modulieren oder den Gesang durch mehrere Tonarten durchzuführen, entdecken müsste.
Es erhellt aus der vorher angeführten Bemerkung über den Ursprung des vielstimmigen Gesangs, dass die Harmonie einigermaßen notwendig in die Musik hat eingeführt werden müssen. Dass sie aber der Natur der Sachen gemäß sei, erhellt schon daraus, dass die harmonischen oder konsonierenden Töne in der Natur selbst vorhanden sind. Denn es ist jetzt vollkommen ausgemacht, dass jeder etwas tiefe und volle Ton, indem er das Gehör rührt, seine harmonische Töne und noch mehrere zugleich hören lasse [s. Klang]. Da nun die Annehmlichkeit eines Klanges ohne Zweifel aus dieser harmonischen Vermischung oder Vereinigung mehrerer Töne entsteht; warum sollte man diesem Wink der Natur nicht folgen und den Gesang nicht vielstimmig machen, wie die Natur jeden ein zeln Ton gemacht hat?
Demnach hat die Musik durch Einführung der Harmonie unstreitig sehr viel gewonnen. Indessen treiben diejenigen freilich die Sache zu weit, die mit Rameau behaupten wollen, dass die ganze Kunst bloß auf die Harmonie gegründet sei und dass so gar die Melodie selbst ihren Ursprung in der Harmonie habe. Diese hat nichts, das auf Bewegung und Rhythmus führen könnte, die doch in der Musik das Wesentlichste sind. Man kann auch nicht einmal sagen, dass die Regeln der Fortschreitung aus Betrachtung der Harmonie entstehen. Denn das, was Rameau mit so viel Zuversicht und mit so demonstrativen Ton hiervon sagt, ist von Roußeau hinlänglich widerlegt worden.
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*) S. Hist. de l'Acad. R. des Inscrip. et Belles-Lettres An MDCCXVI.