Heldengedicht. Wenn gleich dieser Name nach seiner eigentlichen Bedeutung nur demjenigen epischen Gedichte zukommt, darin Heldentaten erzählt werden, so kann er doch überhaupt von der ganzen Gattung gebraucht werden, weil das wahre Heldengedicht das vornehmste der Gattung ist, aus dessen Nachahmung die anderen Arten der Epopöe entstanden sind.
Der Charakter des Heldengedichts besteht überhaupt darin, dass es in einem feierlichen Ton eine merkwürdige Handlung oder Begebenheit, umständlich erzählt und das Merkwürdigste darin, es betreffe die Personen oder andere Sachen, ausführlich schildert und gleichsam vor Augen legt.
Man kann sich den natürlichen Ursprung und den wahren Charakter dieses Gedichts am leichtesten vorstellen, wenn man auf das Achtung gibt, was man beim Lesen einer merkwürdigen Geschicht empfindet. Der Mensch ist von Natur geneigt großen Begebenheiten nachzudenken; er verweilt mit Vergnügen dabei, um alles, was ihn interessiert, so bestimmt und so lebhaft zu fassen als es ihm möglich ist. Wenn die Handlung oder Begebenheit etwas weitläufig und verwickelt ist, so sucht er das Wesentlichste davon sich in einer solchen Ordnung vorzustellen, dass er das Ganze auf einmal am leichtesten übersehen könne. Er ist mit der Erzählung des Geschichtschreibers nicht zufrieden, sondern denkt Umstände hinzu, wie er sie zu sehen wünscht; und seine Einbildungskraft leihet den Personen und Sachen Gestalt und Farbe. Er selbst stellt sich dahin, wo er die merkwürdigsten Personen ganz nahe zu sehen glaubt, wo er Stellungen, Gebärden und die Gesichtszüge deutlich bemerken, den Ton der Stimme hören und jedes Wort verstehen kann. Wo die Personen nicht reden, sucht er aus ihren Minen ihre Gedanken zu erkennen; er setzt sich oft an ihre Stelle, um jeden Eindruck, jede Empfindung, den die Sachen auf sie machen, auch zu fühlen. Also gerät er bei dem Fortgang der Handlung in alle Leidenschaften und in alle Arten der Gemütsfassung, die die Umstände mit sich bringen; sich selbst vergisst er einigermaßen dabei und ist ganz von dem eingenommen, was er sieht und hört.
Dieses ist das Betragen eines jeden empfindsamen Menschen, so oft er sich einer merkwürdigen Begebenheit, die er erzählen gehört oder selbst gesehen hat, wieder erinnert, um die Eindrücke, die sie auf ihn gemacht hat, noch einmal zu genießen. Wenn er selbst den Verlauf der Sachen anderen erzählet, so nimmt sein Ton und sein Ausdruck das Gepräg seiner Empfindung an und er begnügt sich nicht, wie der Geschichtschreiber, bloß zu erzählen, sondern versucht alles so zu schildern, wie er es zu sehen und so auszudrücken, wie er es zu hören, sich bemühet. Aus diesem, jedem lebhaften Menschen natürlichen Hange merkwürdige Begebenheiten mit seinen Zusätzen, Schilderungen und besonderer Anordnung der Sachen zu erzählen, müssen wir den Ursprung des Heldengedichts herleiten. Auch ohne Kunst würde ein empfindsamer und dabei sehr beredter Mensch unter dem Erzählen ein Heldengedicht machen; und so mögen die ältesten Heldengedichte der Barden gewesen sein: kommt noch Überlegung und Kunst hinzu, so bekommt die Erzählung einen feinern Ton und mehr Wohlklang; das ganze wird in eine gefälligere Form geordnet; die Teile bekommen ein Ebenmaß und überlegte Verhältnisse gegen einander und alles, was zu mehrerem Wohlgefallen dienen kann, wird aus Überlegung und Geschmack noch hineingebracht und so entsteht die künstliche Epopöe, welche aus der natürlichen Erzählung eben so entstanden ist, wie die künstlichen Gebäude, aus den, einigermaßen natürlichen, Hütten [s. Gebälk]. Zu dem Notwendigen und zu dem, was die Empfindung selbst an die Hand gibt, ist das hinzugekommen, was ein überlegtes Nachdenken und ein verfeinerter Geschmack, zur Verschönerung der Sachen zu erfinden vermögen. Wer also eine gründliche Theorie des Heldengedichts schreiben wollte, müsste eben so, wie der, welcher die Theorie der Baukunst fest zu setzen vornähme, zuerst auf das Notwendige oder Natürliche darin sehen, was der Kunst vorher gegangen ist und danach auf das, was die Kunst zur Vervollkommnung der ersten natürlichen Versuche hinzutun kann.*)
Aber so sind die Kunstrichter nicht zu Werke gegangen. Aristoteles, einer der ersten, fand Homers Heldengedichte vollkommen schön und setzte sie deswegen zu Mustern ein, ohne zu bedenken, was darin notwendig und natürlich und was zufällig ist. Auch die Kunstrichter, die nach ihm die Beschaffenheit des Heldengedichts, bis auf das Einzele darin, durch Regeln fest zu setzen sich bemühet haben, sind selten bis auf den ersten Grund der Sachen gegangen. Daher ist dieser Teil der Poetik, so wie mancher andre, mit vielen, zum Teil willkürlichen, zum Teil falschen Regeln und Vorschriften überhäuft worden.
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*) Man kann hier das wiederholen, was im Artikel Dichtkunst auf der 253 Seite angemerkt worden.
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