Held

Held. (Dichtkunst) Die Hauptperson des Heldengedichts, wie Achilles in der Ilias, Ulysses in der Odyssee, Äneas in der Äneis. Man braucht aber dasselbe Wort etwas uneigentlich auch von der Hauptperson im Drama. Der Held ist also der, welcher in der Handlung die Hauptrole hat, auf den das meiste ankommt und der alles belebt, der so wohl an der Handlung als am Ausgang derselben das größte Interesse hat.

 Darum muss der Held des Stücks eine wichtige Person sein, deren Gemütscharakter sich auf eine merkwürdige Art äußert; und damit die Aufmerksamkeit gleich von Anfang des Gedichts gereizt werde, ist es gut, wenn er eine in der Geschichte berühmte Person ist, von deren Charakter uns die Hauptzüge schon bekannt genug sind. Wäre dieses nicht, so würde der Dichter Mühe haben seinen Helden gleich von Anfang in dem gehörigen Lichte zu zeigen. Einige Kunstrichter haben anmerken wollen, dass vollkommen tugendhafte Personen sich nicht schicken, Helden der Epopee oder des Drama zu sein. Lord Shaftesbury behauptet so gar, dass ein solcher Held für die Poesie das größte Ungeheuer wäre.1 Man muss sich aber durch das Ansehen dieses scharfsinnigen Mannes nicht verführen lassen. Warum sollte der sterbende Sokrates (und wo ist wohl jemals ein vollkommnerer Mann als dieser gewesen) als Held des Trauerspiels eine ungeheure Figur machen? Und wem ist Leonidas in Glovers Epopöe oder Codrus in dem Trauerspiel des Kroneks als ein Ungeheuer vorgekommen? Oder wer wird sagen dürfen, dass der Prometheus beim Äschylus eine abgeschmackte Person sei? Für einen so feinen Kenner als der Lord unstreitig war, war es nicht genug überlegt, zu behaupten, Homer habe aus Wahl und gutem Vorbedacht seine Helden nicht ganz tugendhaft gemacht. Denn an das, was unsere Moralisten Tugend nennen, hat Homer gewiss nicht gedacht, folglich konnte er auch nicht aus Überlegung die vollkommene Tugend verworfen haben.

  Seneca hat den kühnen Gedanken gehabt, dass ein vollkommen tugendhafter, dabei standhaft leidender Mann, selbst für die Götter ein erhabener Gegenstand sei. Wenn dieses auch übertrieben ist, so können doch Menschen einen solchen Mann groß und interessant finden und also ein großes Vergnügen daran haben, ihn handeln zu sehen. Ist es denn eben so notwendig, dass man in der Epopöe oder im Trauerspiel, immer durch die Heftigkeit der Leidenschaften erschüttert werde? Und rührt die Großmut und eine herrschende Größe der Seele weniger als Zorn oder Wut oder Verzweiflung?

Aber so viel ist gewiss, dass es unendlich schwerer ist einen vollkommen tugendhaften Helden auf einer so interessanten Seite zu zeigen als einen durch heftige Leidenschaften aufgebrachten; so wie ein Zeichner viel leichter den Ausbruch großer Leidenschaften als eine stille Größe der Seele ausdrücken kann.

 

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1 Charackteristiks T. III. S. 262.

 


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