Heroide. (Dichtkunst) Ein kleines affektvolles Gedicht im Tone der Elegie und in Form eines Schreibens an eine Person, gegen welche man, ohne alle Zurückhaltung, ein gerührtes Herz ausschüttet. Man hat diese Dichtungsart dem Ovidius zu danken, der ohne Zweifel, wegen der bewunderungswürdigen Leichtigkeit, die er hatte, jede sanfte Empfindung durch einen Strom verschiedener Äußerungen zu schildern, auf den Einfall gekommen ist, den berühmtesten Personen aus den heroischen oder Heldenzeiten Schreiben anzudichten, die mit verliebten Klagen angefüllt sind. Die Penelope schreibt an ihren Ulysses und gibt ihm ihr zärtliches Verlangen nach seiner Zurückkunft, ihre ängstliche Besorgnis wegen seines langen Ausbleibens und was sie von ihren Freiern auszustehen hat, mit voller Rührung zu erkennen.
»Es ist kein geringes Verdienst an dem Ovidius, (sagt ein sehr scharfsinniger englischer Kunstrichter1) dass er die schöne Methode erfunden hat, unter erdichteten Charaktern Briefe zu schreiben. Es ist eine große Verbesserung der griechischen Elegie, über welche die dramatische Natur jener Schreibart einen ungemeinen Vorzug erhielt. Eigentlich ist die Elegie nichts als ein affektvolles Selbstgespräch, worin das Herz der Betrübnis und den Rührungen, davon es erfüllt ist, Luft schaffet: wird dieses Gespräch aber an eine bestimmte (wir setzen hinzu, an eine aus der Geschichte bekannte und berühmte) Person gerichtet, so erhält es einen gewissen Grad der Schicklichkeit, (des Interesse), daran es auch dem, aufs beste ausgeführten Selbstgespräch in einem Trauerspiel, allezeit fehlen muss. Unsre Ungeduld bei einem drückenden Schmerz oder bei einer Gemütsunruh (auch bei einer von Zärtlichkeit herrührenden Freude) macht es sehr natürlich, dass man sich gegen diejenigen Personen voll Affekt beschweret, von denen man glaubt, dass sie uns solche Unruhen verursacht haben, (oder dass man seine innige Freude, mit denen, die man liebt, zu teilen sucht.) Man beweißt aber hierbei vornehmlich seine scharfsinnige Beurteilungskraft, wenn man die vorhabende Klage (oder Ausgießung der Empfindung) gerade mit einem solchen Zeitpunkt eröffnet, welcher zu den zärtlichsten Empfindungen und zu den plötzlichsten und lebhaftesten Ausbrüchen der Leidenschaft Gelegenheit gibt.«
Wir haben diese etwas lange Stelle, mit Einschaltung einiger Begriffe, hier ganz hergesetzt, weil darin der eigentliche Gesichtspunkt, aus welchem man diese Dichtungsart beurteilen muss, sehr genau bestimmt wird. Es ist eine Hauptsache, dass der Dichter Personen wähle, die uns aus der Geschichte hinlänglich bekannt sind und für die wir uns interessiren und dass er sie in ganz interessante Umstände setze. Durch das er stere gewinnt er den Vorteil, dass er die wichtigsten Umstände über ihre Personen und ihre Geschichte bloß anzeigen und schon durch kleine Winke die Vorstellungen auf die Dinge lenken kann, die man notwendig wissen muss, um alles recht zu fühlen; und durch das andere gewinnt er zum voraus unsere ganze Aufmerksamkeit. Es ist unstreitig eine der vergnügtesten und anmutsvollesten Gemütsbeschäftigungen, sich bekannte und interessante Personen in Umständen vorzustellen, die das Innerste ihres Herzens durch mancherlei Vorstellungen aufrühren. Und welche Gelegenheit uns Empfindung zu lehren und die Bewegungen unseres eigenen Herzens zu lenken und zu berichtigen, könnte besser sein als die diese Dichtungsart anbietet? Sie ist nicht nur einer ungemein viel größeren Mannigfaltigkeit, sondern auch einer sehr viel vollkommneren Bearbeitung fähig als der Erfinder darin angebracht hat. Die Heroiden des Ovidius sind bloß verliebt und zu sehr in einerlei Ton und Charakter und er hat, nach seiner gewöhnlichen Art, auch da zu viel gespielt. Unter den Neueren haben die Engländer diese Dichtungsart wieder aufgebracht und Pope hat in seiner Heroide, Heloise an Abelard, ein so vollkommenes und so reizendes Muster dieser Gattung gegeben, dass es einen allgemeinen Geschmack an solchen Gedichten hätte hervorbringen sollen.
Seit kurzem haben sich einige französische Dichter so sehr in diese Dichtungsart verliebt, dass man bereits eine große Menge französischer Heroiden sieht und leicht vorzusehen ist, dass in kurzem ein Mißbrauch davon werde gemacht werden. Die Deutschen scheint diese Gattung weniger gerührt zu haben; wir haben nur einige schwüllstige Versuche hierin. Doch kann man einigermaßen Wielands Briefe der Verstorbenen hierher rechnen. Also ist hier noch Ruhm zu erwerben.
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1 Versuche über Popens Genie und Schriften. VI Abschnitt. Eine Übersetzung dieser vortrefflichen Schrift ist in dem VI Teile der Sammlung vermischter Schriften zur Beförderung der schönen Wissenschaften und freien Künste, die in Berlin bei Nikolai herausgekommen ist, zu finden.