Nachwirkungen Kants.
Staatsmänner und Offiziere der Reformzeit


Nur aus einer solchen Persönlichkeit konnte eine Philosophie hervorgehen, die so gewaltig, wie bisher keine zweite, den deutschen, ja bis zu einem gewissen Grade den europäischen Geist befruchtet hat. Die unmittelbare Wirkung der neuen Lehre auf die Zeitgenossen haben wir bereits an verschiedenen Stellen geschildert. Aber die mittelbaren Nachwirkungen gingen weit über diese ersten Eindrücke hinaus. Nur in kurzen Strichen versuchen wir sie hier zu zeichnen.

Es hieße einen großen Teil der Kirchengeschichte des 19. Jahrhunderts schreiben, wenn wir die wichtige Einwirkung Kants auf die Theologie darlegen wollten. Der Kantische "Vernunftglaube" (Rationalismus) blieb fast ein halbes Jahrhundert hindurch in der theologischen Wissenschaft wie im evangelischen Gemeindeleben vorherrschend, ja selbst auf den Katholizismus nicht ohne Einfluß. — In der Philologie ist Gottfried Hermanns künstlerische Auffassung der antiken Sprachformen durch Kants Ästhetik befruchtet worden, über die er in seinen jungen Jahren Vorlesungen gehalten hat; auch sonst hat er sich zur Methode wie zur Ethik des Königsbergers bekannt. Ähnlich steht es, wie wir schon wissen, mit Wilhelm von Humboldt. Aus allen seinen Arbeiten, den ästhetischen wie den sprachwissenschaftlichen, spricht derselbe Kantische Geist, wie aus seinem politischen Denken und Schaffen. — Von Vertretern der Geschichtsforschung der nächsten Epoche hat vor allem Niebuhr, ihr erster. Lehrer an der neuen Berliner Universität, von späteren, wenigstens in seiner ethischen Auffassung, auch Schlosser unter Kants Einfluß gestanden. — Von den Rechtsgelehrten haben sich Thibaut, der noch selbst 1793 zu des Meisters Füßen gesessen, der Begründer der historischen Rechtsschule Hugo und der Urheber der modernen Strafrechtswissenschaft Anselm Feuerbach lebenslang dankbar als, wenn auch selbständige, Anhänger des großen Philosophen bekannt. — Wie befruchtend für die organische Naturwissenschaft Kants Kritik der teleologischen Urteilskraft war, haben wir schon aus Goethes Mund vernommen (Bd. I, S. 356ff.). Aber auch der Anatom Sömmerring, der Entdecker der Pflanzenzelle Matthias Schieiden (als Schüler von Fries) und der Begründer der modernen Physiologie, Johannes Müller, haben Kants Einwirkung erfahren.

Die tiefgehendste Wirkung der Kantischen Lehre jedoch war diejenige, die ihr sittlicher Inhalt auf den politischen Geist der preußischen Reform- und Erhebungszeit seit 1807 ausübte. Die deutschen Dichter und Denker hatten abseits gestanden von dem staatlichen Leben: jetzt wirkten sie — was Kant selbst versagt geblieben war — in Wort (Fichte) und Tat (Humboldt) mächtig auf die politische Gegenwart ein. Und die neue Bewegung ging zum großen Teil von dem letzten Zufluchtsort der preußischen Regierung im Jahre 1807, von Königsberg aus. Kein Geringerer als der Ostpreuße Boyen bezeugt es, dass in seiner Heimat erst durch die große Niederlage von 1806/07 die Stände einander näher gebracht und "durch die Universität und einige ihrer vorzüglichen Lehrer wie Kant, viele moralische Rechtsbegriffe und gesunde staatswirtschaftliche Ideen 1) unter den Gebildeten jenes Landes und besonders den neu angestellten Beamten verbreitet" wurden. Es war in der Tat ein ganz neues Geschlecht, diese jungen Beamten und Offiziere, die aus Kants Hörsaal oder von dem Studium seiner Schriften hinausgingen zu ihrem praktischen Beruf. Sie waren es, die dem Geiste weichlicher Tatenscheu, eigennützigen Genießens und politischer Teilnahmlosigkeit, der gerade unter den Gebildeten tief eingerissen war, die Gesinnung des kategorischen Imperativs: straffe Männlichkeit, spartanische Genügsamkeit, Freiheitsliebe und die strenge Zucht und Pflichterfüllung, vor allem aber die freiwillige begeisterte Unterordnung unter das Ganze, entgegensetzten.

Es ist kein Zufall, dass gerade in Kants ostpreußischer Heimatprovinz die neue Bewegung zuerst um sich griff, und dass dort diejenigen Männer an deren Spitze standen, die noch seinen persönlichen Umgang genossen hatten: so die beiden von Schroetter, der Provinzialminister und der Kanzler, so der Schöpfer der neuen Städteordnung, der Königsberger Polizeidirektor Frey, der Oberfiskal Mosqua, der für eine völlige Erneuerung der militärischen Erziehung eintrat, so ihr langjähriger Oberpräsident Theodor von Schön, der "von Jugend auf Kantischen Geist eingeatmet hatte" und auch stets begeisterter Kantianer geblieben ist. Als Stein Anfang Oktober 1807 nach Memel kam, fand er das berühmte Edikt zur Bauernbefreiung in der Hauptsache schon fertig vor.2)

Und zu den Staatsmännern und Beamten traten die Militärs. Den jungen Heinrich von Kleist freilich trieb die Kantische Philosophie gerade aus dem Soldatenhandwerk hinaus. Andere aber wußten mit ihrem militärischen Beruf tiefgehendes Bildungsstreben zu vereinen. So hatten im Frühjahr 1795 deutsche Reiteroffiziere, wie der mit Schiller befreundete Major von Funk und sein Kamerad Thielmann (der spätere General) in ihrer Feldequipage alle möglichen Kantischen, Fichteschen und Reinholdschen Schriften. "Kant müßte es doch Spaß machen," schreibt G. Körner bei dieser Mitteilung an Schüler (27. April 1795), "wenn er wüßte, dass er auch am Rhein unter den Husaren verehrt und studiert würde; und zwar von zwei Offizieren, die sich in ihrem Fache sehr auszeichnen." — Ein anderer, der als Feldmarschall gestorbene von Knesebeck, war nach Varnhagen von Ense "unter den jüngeren Offizieren der erste, der sich zu Kants Lehren hielt"; er hatte sie durch den jungen Schön in Königsberg kennen gelernt und nahm deshalb, wie ein Zeitgenosse sich ausdrückt, "Scharnhorsts Ideen" eifrig in sich auf. — Wenn wir auch von speziellen Kantstudien Scharnhorsts nichts wissen, so wirkten doch unter ihm an der Kriegsakademie zwei Kantianer: der uns schon bekannte Kiesewetter als Lehrer der Philosophie und Mathematik, E. G. Fischer als solcher der Mathematik und Physik. — Scharnhorsts Mitarbeiter aber an der Heeresreform, der spätere Kriegsminister und Organisator der allgemeinen Wehrpflicht, Hermann von Boyen, hatte 1788/89 bei Kant Anthropologie gehört und aus seinem Munde jenes Humanitätsideal in sich aufgenommen, dessen Vereinigung mit dem Berufe des preußischen Offiziers sein Lebensziel ward. Er vertrat schon 1799 in einer Schrift 'Über die militärischen Gesetze' den Grundsatz, dass auch der Soldat als "vernünftiges Wesen" zu behandeln sei, und dass dasjenige Heer auch die beste Disziplin haben werde, "welches die vollständigste und menschlichste Gesetzgebung hat". Auch in seinem späteren lieben hat "der Stille, Bescheidene, Feste" (E. M. Arndt) sich selbst durch die bittersten Erfahrungen an seinem zuversichtlichen Glauben an den Fortschritt der Menschheit und den endlichen Sieg des Guten nicht irremachen lassen. — Ein Nachfolger Kants, wenn auch nicht im Schulsinne, war endlich auch der größte, bisher noch unübertroffene preußische Kriegstheoretiker Karl von Clausewitz. Was er in seinem berühmten Werk 'Vom Kriege' über Genie, Charakter, Kritik, Methode, System, das Verhältnis zwischen Theorie und Erfahrung und über "moralische Größen" sagt, ist zwar nicht in Kants Worten formuliert, aber in seinem Sinne gedacht.

 

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1) Dabei ist wohl vor allem an Freihandels- und Gewerbefreiheits-Lehren zu denken, die im Geiste, von Adam Smith übernommen und im Sinne Kants, namentlich von Kraus, verkündet wurden.

2) Noch am 23. Dezember 1842 schreibt Varnhagen in sein Tagebuch: "dass die Provinz Preußen so unverbesserlich auf Konstitution versessen ist, wird teils dem unmittelbaren Einwirken des Herrn Schön, teils dem Nachwirken des Kantischen Geistes, der die ganze Provinz durchdrungen hat, beigemessen".


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