Streit der Fakultäten


Die letzte von Kant selbst herausgegebene Schrift, wenn wir von der ungefähr gleichzeitig veröffentlichten Vorlesung über Anthropologie absehen,1) ist der im Spätherbst 1798 erschienene 'Streit der Fakultäten'.

Gewiß lassen sich an dieser letzten Schrift einzelne Schwächen herausfinden. Sie zeigt, wie die meisten Schriften seiner Altersjahre, eine gewisse Weitschweifigkeit, wie sie einem geistvollen Greise leicht eigen ist; auch Mängel in der Disposition, die sich zum Teil daraus erklären lassen, dass die Gesamtschrift aus drei, wie Kant selbst sagt, "in verschiedener Absicht, auch zu verschiedenen Zeiten" verfaßten Abhandlungen erst nachträglich zusammengefügt worden ist. Der auffallendste ist vielleicht der, dass in dem zweiten, den 'Streit der philosophischen Fakultät mit der juristischen' behandelnden Abschnitt von dieser letzteren überhaupt mit keiner Silbe die Rede ist, sondern die rein geschichtsphilosophische, übrigens hier nur "erneuerte" Frage aufgeworfen wird: Ob das menschliche Geschlecht im beständigen Fortschritt zum Besseren sei? Indes es kommt hier weder auf die ziemlich verwickelte Entstehungsgeschichte der Schrift an, die wir in unseren beiden Ausgaben derselben2) genau auseinandergesetzt haben, noch auf die zahlreichen wertvollen Einzelgedanken, die bereits vielfach in verschiedenen Kapiteln dieses Buches berücksichtigt worden sind: sondern auf das, was sie als Ganzes, als Abschluß von Kants philosophischer Schriftstellerei bedeutet.

Das aber beruht auf einem Gedanken, der die ganze Lebensarbeit unseres Philosophen veranlaßt, beflügelt und von Anfang bis Ende begleitet hat: der Auseinandersetzung seines, des philosophischen, mit den beati possidentes der praktischen Berufe, in seiner Sprache: des 'Streits' der immer noch als "untere" gering geschätzten philosophischen mit den alten, im Besitz der Macht befindlichen sogenannten "oberen" Fakultäten. Die Regierung interessiert am meisten, was ihr den stärksten und dauerndsten Einfluß auf das Volk verschafft; sie behält sich daher das Recht vor, die Lehren der "oberen Fakultäten" zu sanktionieren, die von ihr abhängig bleiben. Es muß deshalb in der Republik der Gelehrten eine Fakultät geben, welche, unabhängig von den Befehlen der Regierung, diese zu kritisieren die Freiheit hat und darin "keinen Scherz versteht", welche ihre Lehren nicht gleich jenen aus der Bibel, dem Landrecht und der Medizinalordnung, sondern aus der Vernunft schöpft, jenen ihre glänzenden, vorgeblich aus der Vernunft entlehnten Federn abzieht und mit ihnen "nach dem Fuß der Gleichheit und Freiheit verfährt". Ihr Zweck ist nicht, wie bei jenen, die Nützlichkeit, sondern die Wahrheit. Will man die Philosophie mit den Scholastikern als "Magd" der Theologie bezeichnen, so ist es eine Magd, die der "gnädigen Frau" nicht die Schleppe nach-, sondern die Fackel voranträgt! Den Beamten kann es, wie schon die Schrift über die Aufklärung (s. Buch III, Kap. 3) gelehrt hatte, verwehrt werden, der Regierung öffentlich zu widersprechen; der philosophischen Fakultät darf, ähnlich wie der Opposition der Linken im Parlamente, die Freiheit der Kritik nicht geschmälert werden. Der "Streit", das heißt der innere Gegensatz zwischen beiden Teilen, wird zwar nie aufhören, aber er muß "gesetzmäßig", das heißt unter voller Wahrung der Rechte der Vernunft, geführt werden. In diesem Falle wird er auch dem Ansehen einer unparteiischen Regierung niemals Abbrach tun, vielmehr nur zu ihrem Vorteil, nämlich zur Eintracht zwischen Wissenschaft und Staat dienen, indem letzterer in der ersteren seine beste innere Stütze und Ratgeberin erblickt.

Die Anwendung dieser Grundsätze, die zugleich der von Kant immer wieder gepredigten Notwendigkeit reinlicher Scheidung der einzelnen Wissenschaften entspricht, führt zu den von unserem Philosophen längst geforderten, uns bekannten Folgerungen und braucht darum nicht mehr im einzelnen dargestellt zu werden. Um nur das Wichtigste zum Schluß noch einmal kurz zusammenzufassen: Auf dem Gebiete der Religion müssen alle der praktischen Vernunft widersprechenden Lehren moralisch, das ist von dem "Gott in uns" ausgelegt werden. Der Glaube an Unbegriffenes hat an sich keinen sittlichen Wert, auf das Tun kommt alles an. Und dies Tun muß aus des Menschen eigener Kraft entspringen; nur im Notfalle mag man allenfalls eine übernatürliche "Ergänzung" dieser Kraft annehmen, von der wir jedoch niemals wissen können, worin sie bestehe. — Im Recht oder vielmehr in der Politik ist die Losung: Idealismus des Ziels bei weitgehendem Wirklichkeitsverständnis. Ein dem natürlichen Rechte der Menschen gemäß organisiertes Gemeinwesen ist kein "leeres Hirngespinst", sondern bleibt die "ewige Norm" für alle bürgerliche Verfassung. Nach ihr müssen wir trotz aller Schwierigkeiten wenigstens hinstreben. Ganz kann die Menschheit ihren Fortschritt zum Besseren nicht mehr rückgängig machen, seit das große Ereignis der französischen Revolution eingetreten ist: "ein solches Phänomen vergißt sich nicht mehr". Einen dauernden Umschwung erwartet Kant freilich nicht durch gewaltsame Revolution von unten, sondern auf dem Wege allmählicher Entwicklung ("Evolution") "nach einem überlegten Plane der obersten Staatsmacht". — Endlich zeigt sich die Oberherrschaft der Philosophie auch gegenüber der Medizin dann, wenn die "Macht des Gemüts" oder, wie es später genauer heißt, der Vernunft, seiner krankhaften oder auch bloß sinnlichen Gefühle "Meister zu sein", unsere Lebensweise bestimmt: während die Heilkunde, falls sie die Hilfe nur in rein apothekarischen oder chirurgischen Mitteln sucht, "bloß empirisch und mechanisch" bleibt. Das ist auch hier bei aller anmutigen Plauderei, die, unterstützt durch Selbstbeobachtungen am eigenen Körper, diese volkstümlich geschriebene, auch als Sonderschrift herausgegebene und vielgelesene Abhandlung 'Von der Macht des Gemüts' kennzeichnet, der beherrschende und sie mit den beiden anderen verbindende Grundgedanke.

So erhält die philosophische Lebensarbeit Kants gerade durch den 'Streit der Fakultäten' einen ihrer würdigen Abschluß. Er gilt seiner ersten und letzten, seiner einzig dauernden Liebe: der Philosophie. Wie er schon als Jüngling den Mut hatte, im Gegensatz zu dem üblichen Brauch sich auch äußerlich zu der verachteten, "unteren" Fakultät zu bekennen, wie er lange Jahre der Bedürftigkeit und der gewaltigsten Geistesanstrengung ertragen hat, um nur der geliebten Herrin dienen zu können, in die er "das Schicksal hatte, verliebt zu sein", so hat er ihr auch in dieser letzten selbständigen Schrift das schönste Denkmal gesetzt.

 

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1) Der 'Streit der Fakultäten' wurde eher gedruckt, wie eine Stelle von Abeggs Tagebuch zeigt. Unterm 30. Juni 1798 berichtet Abegg: "Von Kants Schriften ist er (sc. Nicolovius) jetzo der Verleger, und der Streit der Fakultäten wird nächstens im Druck fertig sein. Dessen Anthropologie hat er vor 14 Tagen im Manuskript abgeschickt."

2) In meiner Ausgabe von Kants Werken (Philos. Bibl.), Bd. 46 a, S. XI—XXI, und in der Akademie-Ausgabe VII, S. 337—342.


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