III. Einheitlichkeit des Charakters


Ernstes, den Dingen auf den Grund gehendes Klarheitsund Wahrheitsbedürfnis bringt den Menschen nicht bloß zu geistiger Selbständigkeit, sondern läßt ihn auch nicht eher ruhen, als bis er zu möglichster Einheitlichkeit und Folgerichtigkeit seines Denkens und Handelns durchgedrungen oder, mit Kantischen Worten, zur "Gründung eines Charakters" gelangt ist. So war es auch bei unserem Kant.

Natürlich hat auch bei ihm in dieser Hinsicht eine seelische Entwicklung stattgefunden. Wir wissen zu wenig aus seinen jüngeren Jahren, als dass wir bestimmte Behauptungen wagen dürften. Nur eins läßt sich mit großer Wahrscheinlichkeit vermuten, nämlich dass bei dem anscheinend so "nüchternen" und besonnenen, trockenen Kant diese "Gründung seines Charakters" nicht ohne heftige Gemütsbewegungen vor sich gegangen ist. Darauf lassen nicht bloß diejenigen Stellen seiner Ethik, an denen er eine völlige "Revolution der Denkungsart" für den neuen, sittlich wollenden Menschen fordert, sondern deutlicher noch eine anscheinend bisher fast 1) nirgends beachtete Stelle seiner Anthropologie in dem Abschnitt 'Von dem Charakter' (S. 238 meiner Ausgabe) schließen. Dort äußert er sich mit einer Ergriffenheit, die — gerade weil sie in seinen Schriften so selten ist — nur aus eigenem inneren Erleben herrühren kann, über eben diese "Gründung eines Charakters" beim Menschen. Er nennt sie "gleich eine Art Wiedergeburt", verbunden mit "einer gewissen Feierlichkeit der Angelobung, die er sich selbst tut", so stark, dass sie "die Stunde, in der diese Umwandlung in ihm vorging, gleich einer neuen Epoche ihm unvergeßlich mache". Und weiter: die Festigkeit in Grundsätzen könne nicht nach und nach, sondern nur "gleichsam durch eine Explosion, die auf den Überdruß am schwankenden Zustande des Instinktes auf einmal erfolgt", bewirkt werden.

Den Zeitpunkt, in dem sich diese "Art Wiedergeburt" in Kants Innerem vollzog, dürfen wir uns wohl nicht zu früh denken. Wie sich überhaupt die Weltanschauung eines Mannes in der Regel nicht vor dem 30. Jahre festzusetzen pflegt, so meint auch Kant an unserer Stelle, es würden "vielleicht nur wenige sein", die sie (die "Umwandlung") "vor dem 30. Jahre versucht", noch wenigere, "die sie vor dem 40. fest gegründet haben" (vgl. Ak.-A.XV, 873, wo sie dem 40. zugeschrieben wird). Damit würde stimmen, was wir im 1. Kapitel des zweiten Buches aus jener bedeutsamen Stelle in dem Briefe an Lindner vom 28. Oktober 1759 geschlossen haben. Einigermaßen bestätigt würde eine solche Annahme durch eine anscheinend um die nämliche Zeit auf den Umschlag eines Briefes von demselben Lindner vom 20. Oktober 1759 geschriebene Notiz: "Man muß bei einerley Maximen bleiben" (Ak.-Ausg. XV, Nr. 1343). Allerdings könnte die entscheidende Wendung auch erst einige Jahre später durch die tiefgreifende Wirkung Rousseaus, die ja nahe seinem 40. Lebensjahre eintrat, veranlaßt worden sein. Längere Zeit vollzogen ist sie jedenfalls schon im Jahre 1766, an dessen 8. April er die bekannten Worte an Mendelssohn schreibt, dass die "wetterwendische" Gemütsart diejenige sei, in die er niemals geraten werde.

Die Gründung eines Charakters aber, so fährt jene Anthropologie-Stelle fort, bedeutet: "Absolute Einheit des inneren Prinzips des Lebenswandels überhaupt ... Fragmentarisch ein besserer Mensch werden zu wollen, ist ein vergeblicher Versuch." "In der Einheit des Charakters besteht die Vollkommenheit des Menschen", lautet eine Notiz aus der Zeit um 1777 (XV, S. 533). Deshalb ist "das Erste, was der Mensch tun muß, dass er die Freiheit unter Gesetze der Einheit bringt; denn ohne dieses ist sein Tun und fassen lauter Verirrung". Aus diesem Grunde wird daher auch — an zahlreichen Stellen der Schriften wie des Nachlasses — immer wieder der Charakter, das heißt der Wille nach Grundsätzen, dem "Naturell" oder Temperament, als dem Willen nach Instinkt, entgegengesetzt. Der Charakter muß das Naturell "dirigieren"; er allein macht den Wert des Menschen aus. Ja, der "rigoristische" Ethiker Kant schätzt den bösen Charakter höher als den gutmütigen Schwächling (Anthropol., S. 236 f.) — Schwäche ist noch keine Tugend — und versteigt sich zu dem Ausspruch: "Es ist eher zu ertragen, dass jemand böse in Grundsätzen ist, als im Guten inkonsequent" (XV, S. 542). So ward denn auch seine eigene Lebensführung mehr und mehr "eine Kette von Maximen" (Jachmann); und doch machte er auf keinen seiner Schüler oder Bekannten, von dem jungen Herder bis zu Abegg, den Eindruck eines eigentlichen Pedanten, über die er sich im Gegenteil in seinen Schriften und Gesprächen (Abegg) lustig machte.

Von Pedanten, z. B. gelehrten Philologen ohne Weltkenntnis, versprach er sich auch in der Philosophie nicht viel. Man könne sich wohl dem allgemeinen Geschmack anbequemen, ohne Nachteil der Gründlichkeit (XV, 531). "Ermahnungen" findet er langweilig (ebd. Nr. 1192). Das Genie vermöge sogar trockenen Prinzipien Schwung zu geben. Aber vorher — und damit kommen wir zur Hauptsache zurück — müssen eben diese Prinzipien fest gegründet sein, und das kann nur auf schul-, nicht auf geniemäßige Art geschehen, und zwar durch eiserne Konsequenz. "Konsequent zu sein", so lautet das berühmte Wort in der Kritik der praktischen Vernunft (S. 30), ist "die größte Obliegenheit eines Philosophen", die gleichwohl am seltensten angetroffen werde. Und dem letzten Jahrzehnt seines Lebens entstammt das rückschauende Wort: "Die kritische Philosophie, wenn man einmal nur kurz die Schule derselben gemacht hat, dient dazu, in alle seine Geschäfte Ordnung, Zusammenhang und Methode zu bringen."

 

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1) Außer bei Weininger ('Geschlecht und Charakter', Wien 1905, S. 209). Ich halte es für gerecht, darauf hinzuweisen, dass dies Buch des bekannten Antifeministen manche wertvolle Bemerkung über Kants Persönlichkeit enthält.


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