Kant und die Reaktion in Preußen
Friedrich Wilhelm II.


Ebenso unbeirrt ging unterdessen unser Philosoph seinen Weg weiter. Schon im März 1790 hatte er zu Borowskis Schrift über den Wundermann Cagliostro (den Goethe in seinem 'Gustkophtha' verspottete) auf die Bitte seines alten Schülers einen kurzen offenen Brief 'Über die jetzt so überhandnehmende Schwärmerei und die Mittel dagegen' beigesteuert. Noch hielt er damals wohl die Unabhängigkeit der Wissenschaft nicht für ernstlich gefährdet. Denn als Hauptmittel empfahl er, anstatt des oberflächlichen Vielerleilernens in den Schulen, ganz allgemein das Gründlichlernen des Wenigeren, vor allem aber Pflege der echten, strengen Naturforschung durch Beobachtung und Experiment. Den "animalischen" Magnetiseur und seine Gläubigen einer ausführlichen Widerlegung zu würdigen, widerspreche der Würde der Vernunft und richte zudem nichts aus; stillschweigende Verachtung sei derartigem Wahnsinn gegenüber das einzig Richtige.

Im Juni 1791 schon ging indes in Berlin das Gerücht, eines der Mitglieder der neuen "Immediat-Examinations-Commission", der Oberkonsistorialrat Woltersdorf, habe es beim König dahinzubringen gewußt, dass dem Königsberger Philosophen "das fernere Schreiben untersagt" würde; so erklärte man sich, dass die von ihm erwartete 'Moral' auf der Ostermesse nicht erschienen war. Indessen Kant ließ sich nicht irre machen, gab vielmehr in seinem September 1791 in der Biesterschen Monats schrift veröffentlichten Aufsatz 'Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodicee' seinen Überzeugungen, insbesondere seiner Abscheu gegen alle Heuchelei in Glaubenssachen, offensten Ausdruck und erhob den Anspruch für alle Vernunftwesen, jede Lehre zu prüfen, bevor sie sich ihr unterwürfen. Vor allem die 'Schlußanmerkung' war deutlich auf die neue Examensordnung und den dadurch verursachten Gewissenszwang gemünzt. Nachdem kurz vorher das mannhafte Berliner Oberkonsistorium ein indirektes Lob erfahren hat — Hiob würde trotz seiner Frömmigkeit wahrscheinlich von jeder Synode, Inquisition oder Oberkonsistorium ("ein einziges ausgenommen") ein schlimmes Schicksal erfahren haben —, wird mit deutlicher Beziehung auf jenen Zwang zu innerer Unwahrhaftigkeit gesagt: "Wie bald solche blinde und äußere Bekenntnisse (welche sehr leicht mit einem ebenso unwahren inneren vereinbart werden), wenn sie Erwerbmittel abgeben, allmählich eine gewisse Falschheit in die Denkungsart selbst des gemeinen Wesens bringen können, ist leicht abzusehen."

Aber der König und die Dunkelmänner seiner Umgebung, noch dazu geängstigt und aufgeregt durch die gleichzeitige Entwicklung der Dinge in Frankreich, ließen sich durch die besorgten Warnungen von Preußens größtem Denker auf dem einmal beschrittenen Weg nicht mehr aufhalten. Auf den Wunsch Hillmers, der, mittlerweile zum Geheimrat ernannt, zusammen mit Hermes seit September 1791 des Zensoramtes waltete, waren schon am 19. Oktober 1791 durch eine besondere Kabinettsorder auch alle Zeit- und Gelegenheitsschriften, welche von der bisherigen Zensur "viel zu leichtsinnig" und milde behandelt worden seien, den beiden neuen Zensoren unterstellt worden. Die Folge davon war, dass Nicolais 'Allgemeine Deutsche Bibliothek' ihren Druckort außerhalb Preußens nach Kiel, die 'Berlinische Monatsschrift' den ihren nach Jena, später Dessau verlegte. Als das Staatsministerium gegen die von dem Manne, der sich damals Kaiser von Deutschland nannte, in Hinblick auf die französische Revolution empfohlene strenge Handhabung der Zensur allerlei Bedenken zu äußern wagte, wurde es am 21. Februar 1792 mit einer höchst ungnädigen königlichen Kabinettsorder bedacht: Es schiene, als ob die Herren Minister der Aufklärung das Wort reden und die "von so vielen Geistlichen und anderen Aufklärern so dreist unternommenen Verfälschungen der reinen christlichen Religion" als "außerwesentliche" kritische Untersuchungen beschönigen wollten; und doch stehe jedermann das traurige Exempel jenes großen Staates vor Augen, wo der Keim der unglücklichen Revolution in jenen Religionsspöttern zu suchen sei. die noch jetzt von der betörten Nation vergöttert würden; die Minister sollten fest zusammenstehen, um die königliche Willensmeinung in ihrem ganzen Umfang auszuführen. Natürlich knickte daraufhin das Ministerium zusammen, und ein neuer Erlaß vom 5. März verschärfte die Zensur dahin, dass jetzt auch jeder unehrerbietige Tadel der Landesgesetze oder der inneren Verwaltung mit Strenge geahndet werden solle.

Diesem Stand der Dinge gegenüber konnte auch Kant den Ernst der Lage sich nicht mehr verhehlen. Dass man schließlich auch ihn nicht mehr schonen würde, kam immer mehr in den Bereich der Möglichkeit. Schrieb ihm doch schon am 24. Januar 1792 Jakob aus Halle: "Das neu errichtete Religionstribunal ist lange unschlüssig gewesen, ob es nicht Feuer und Schwert gegen Ihre Philosophie gebrauchen soll, und Herr Woltersdorf soll schon eine Schrift fertig haben, in welcher die Schädlichkeit der Kantischen Philosophie auf das Evidenteste dargetan ist." Der Philosoph äußert jetzt selbst zum erstenmal ernstliche Besorgnis bezüglich der Freiheit der Meinungsäußerung. "Neuerdings eröffnet sich", schreibt er am 24. Februar d. J. an Seile in Berlin, "eine neue Ordnung der Dinge, ... nämlich Einschränkung der Freiheit, über Dinge, die auch nur indirekt auf Theologie Beziehung haben möchten, laut zu denken." Als akademischer Lehrer müsse er die Vorsicht gebrauchen, "alle Versuche dieser Art so lange wenigstens aufzuschieben, bis sich das drohende Meteor entweder verteilt oder für das, was es ist, erklärt hat". Trotzdem sandte er ungefähr zur selben Zeit — leider ist der betreffende Brief nicht erhalten, sondern der Inhalt nur aus der Antwort Biesters (am 6. März) und einer von Kant approbierten späteren Darstellung Borowskis zu entnehmen — eine Abhandlung 'Über das radikale Böse in der menschlichen Natur' zur Aufnahme in die 'Berlinische Monatsschrift' an Biester: allerdings mit dem Ersuchen, sie vor dem Druck der Berliner Zensurbehörde vorzulegen. Da die Monatsschrift seit Anfang des Jahres in Jena, also außerhalb Preußens gedruckt wurde, so war nach den bestehenden Vorschriften kein Zwang hierzu vorhanden. Allein der Verfasser wollte "durchaus auch nicht den Schein einmal haben, als ob er einen literarischen Schleichweg gern einschlüge und nur bei geflissentlicher Ausweichung der strengen Berlinischen Zensur sogenannte kühne Meinungen äußern" (Kant bei Borowski, S. 233 f.). Ob er nun aus Vorsicht sicher gehen, oder ob er die Sache gleich von Anfang an zur grundsätzlichen Entscheidung bringen wollte (was die beiden ersten Absätze der Biesterschen Antwort vermuten lassen), oder ob er sich, nach dem Inhalt der Abhandlung, seiner Sache sicher fühlte? Jedenfalls erhielt Biester den von ihm auf Kants Wunsch der Berliner Zensur eingereichten Artikel bereits am folgenden Tage von Oberkonsistorialrat Hillmer, dem die Zensur über die Sachen "moralischen Inhalts" zufiel, mit der Druckerlaubnis zurück, unter der eigentümlichen Begründung: "weil er (Hillmer) nach sorgfältiger Durchlesung diese Schrift, wie die übrigen Kantischen, nur nachdenkenden, untersuchungs-und unterscheidungsfähigen Gelehrten, nicht aber allen Lesern überhaupt bestimmt und genießbar finde". So wurde sie denn in dem Aprilheft der Monatsschrift (S. 323—385) veröffentlicht.

Nicht so gut sollte es der Fortsetzung, dem zweiten Stück: 'Vom Kampf des guten Prinzips mit dem Bösen usw.' ergehen, das Biester drei Monate später von Kant erhielt und wiederum der Berliner Zensurbehörde vorlegte: gegen seine eigene Ansicht, dem Wunsche des Philosophen gehorchend, der sich wohl der Hoffnung hingab, "als ob die angedrohte Strenge der Zensur vielleicht nicht so ganz, als befürchtet wird, in Ausübung kommen" werde, zumal darüber "noch kein bestimmtes Edikt" ergangen sei (K. an Lagarde, 30. März 92). Diesmal fand jedoch Hillmer — übrigens nicht ohne Grund —, dass der Inhalt des Manuskripts "ganz in die biblische Theologie einschlage". Er habe es deshalb, so lautete sein am 14. Juni Biester erteilter Bescheid, seiner Instruktion gemäß mit seinem Kollegen Hermes "gemeinschaftlich durchgelesen", und da dieser sein Imprimatur verweigere, so trete er ihm bei. Der schlagfertige Biester richtete sofort folgenden Tags eine Eingabe an Hermes, in der er anfragte: 1. wodurch der Aufsatz gegen das Zensuredikt vom 19. Dezember 1788 verstoße ? und 2. ob Hermes vielleicht ein anderes, der Öffentlichkeit nicht bekanntes Reglement befolgt habe? Worauf Hermes unterm 16. Juni erwiderte: Das Religionsedikt sei seine Richtschnur; weiter könne er sich nicht darüber erklären. Mit Recht fügt Biester seinem alsbald nach Königsberg gehenden Bericht über diesen Entscheid die Worte bei: "Es muß wohl jeden empören, dass ein Hillmer und Hermes sich anmaßen wollen, der Welt vorzuschreiben, ob sie einen Kant lesen soll oder nicht" (B. an Kant, 18. Juni 92).

Es ist ein schönes Zeugnis von dem Freimut des kgl. preußischen Bibliothekars Biester, dass er sofort am 20. Juni gegen diesen Bescheid ein Immediatgesuch an den ihm seiner Gesinnung nach doch bekannten König selbst einreichte, dessen wesentlichste Stücke aus den Akten des Geh. Staatsarchivs von Fromm (a. a. O., S. 28—33) veröffentlicht worden sind. Der Verfasser des ziemlich umfangreichen Schriftstücks weist zunächst darauf hin, dass durch diese willkürliche Handhabung der Zensur nicht sowohl er, als der große, vom König selbst geschätzte Philosoph gekränkt, Preßfreiheit und Wissenschaftsfreiheit aber, offenbar "den Intentionen des Königs zuwider", verletzt seien. Kant nehme bekanntlich einen "so hohen und reinen Grundsatz der Moralität" an, dass "mehrere seiner gelehrten Gegner ihn für die mit Sinnlichkeit bekleideten Menschen zu hoch und zu rein gehalten haben"; daher könne seine neue Ausführung dieses Grundsatzes unmöglich etwas "der moralischen und bürgerlichen Ordnung Zuwiderlaufendes" enthalten. Und, was die Religion betreffe, so dringe Kant in seinem Aufsatz nicht bloß im allgemeinen auf eine Gott wohlgefällige Gesinnung und Handlungsweise, sondern finde auch sein Moralprinzip insbesondere in der christlichen Religion und der Bibel, so dass diese dadurch noch ehrwürdiger erscheine. Wenn somit Kants Schrift nicht gegen den Wortlaut des Zensuredikts verstoße, so müßten unbekannte Gesetze und Verordnungen vorhanden sein, um deren Bekanntgebung er (Biester) bitte. Da diese jedoch unmöglich einem Autor gegenüber, der sie nicht gekannt, rückwirkende Kraft haben könnten, bitte er dem jetzigen Aufsatz Kants, "gesetzt, dass er auch gegen ein künftig zu publizierendes Zensuredikt verstieße", für jetzt doch das Imprimatur gnädigst zu erteilen.

Trotz dieser klaren Gedankenentwicklung wagte das Plenum des Staatsministeriums, dem auf Biesters Wunsch die Entscheidung über seine Eingabe übertragen ward, diesmal nicht mehr wider den Stachel zu locken. Es ließ ihm am 2. Juli, ohne weitere Begründung, den kurzen Bescheid zugehen, "dass seine Beschwerde ungegründet befunden worden und es bei dem Ihm verweigerten imprimatur sein Bewenden habe".


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