Das Jahr 1802 und 1803


Im folgenden Winter (1802/03) klagte er wieder mehr über das Auftreten seines alten Übels, der "Blähungen auf dem Magenmunde". Nach Notizen seines Nachlasses lagen sie auf seinem Magen wie eine unverdauliche Speise, "gleich einem Stein", als eine "unerträgliche Plage", die "alles Gedeihen der Speise verhindere" und ihm auch starke Schlaflosigkeit verursachte. Am 7. Oktober d. J. besuchte ihn auf einer Reise von Danzig nach Dorpat ein Verehrer, der junge Professor Morgenstern. Kants alte Freunde hatten ihm davon abgeraten, weil Kant schon so schwach sei. Doch ging er nach Tisch, wo der Philosoph sich gewöhnlich etwas frischer fühlte, auf kurze Zeit zu ihm. Kant empfing ihn freundlich und erkundigte sich nach Danziger Bekannten. Er versicherte seinem Gaste unter anderem, dass er keine Furcht vor dem Tode habe. Er fühlte sich jetzt oft lebensmüde: er könne, so klagte er Wasianski, der Welt nichts mehr nützen und wisse nicht, was er mit sich anfangen solle. Gegen Wintersende wurde er in seinem, jetzt zum erstenmal geheizten, Schlafzimmer teils durch läppische Einfälle (Schulschnurren, Gassenhauer und anderes) am Einschlafen gehindert, teils durch schreckende Träume aus dem Schlafe gestört, ja aus dem Bett bis ins Vorhaus gejagt. Auf Wasianskis Rat gewann er es schließlich über sich, seinen Diener im selben Zimmer schlafen zu lassen, auch nachts eine Kerze zu brennen. Auch sein sonst so guter Appetit ließ nach. Mit Ungeduld erwartete er das Kommen der wärmeren Jahreszeit, weil er von einer Wiederholung der vorjährigen Ausfahrten ("großen Reisen", wie sie ihm jetzt vorkamen) Besserung erhoffte. Als die Grasmücke, die sonst immer mit dem Frühling in der Nähe seines Fensters erschien, diesmal ausblieb, seufzte er wehmütig: "Mein Vögelchen kommt nicht!", als ob er geahnt hätte, dass auch er kein neues Frühjahr mehr erleben werde.

Zu Anfang 1803 empfing er allerdings noch Fremdenbesuche, darunter sehr vornehme. Und noch am 3. März d. J. hatte er mit Hasse eine noch durchaus klare zusammenhängende Unterhaltung über seinen Grundsatz der moralischen Auslegung der Bibel, an dem er durchaus festhielt — wäre die Bibel nicht schon da, meinte er, würde sie überhaupt nicht geschrieben zu werden brauchen! —, sowie über das radikale Böse: "Am Menschen sei nicht viel Gutes. Jeder hasse den anderen, suche sich über seinen Nebenmenschen zu erheben, sei voll Neid, Mißgunst und anderer teuflischer Daster. Homo homini, nicht deus, sondern diabolus." Jeder solle vielmehr in seinen eigenen Busen greifen. Auch freute er sich schon lange vorher auf die von Wasianski in die Hand genommene Feier seines letzten Geburtstages am 22. April dieses Jahres, zu der man alle seine Tischfreunde eingeladen hatte, namentlich auf einzelne, lange nicht mehr von ihm gesehene, wie den Kriegsrat Scheffner. Als aber dann der große Tag gekommen war, bemühte er sich zwar, froh zu sein, fühlte sich jedoch von der Unterhaltung der ihm ungewohnten zahlreichen Gesellschaft bald so angegriffen, dass er nicht den erhofften Genuß davon hatte und erst zu sich selbst kam, als er danach im Schlafrock mit Wasianski allein in seinem Studierzimmer saß, und sich mit ihm über die seinem Diener und seiner Köchin zu gebenden Geschenke besprach.

Von nun an ging es mit dem großen Geiste immer mehr abwärts. Wohl machte er im Juni wieder eine Wagenfahrt nach jenem Sommerhause Wasianskis, dann auch mehrmals, zum letztenmal im August, in Hasses Garten. Aber diese kurzen Fahrten, die er vor ihrer Ausführung weit hatte ausdehnen wollen, griffen ihn so an, dass er sich bald mit dem wiederholten Ausruf: "Hat's denn noch kein Ende?" nach Hause sehnte; in Hasses Garten erkannte er fast keinen der Kollegen mehr, die sich zu seiner Begrüßung dort eingefunden hatten. Auch die Mittagsmahlzeiten, zu denen stets nur noch zwei Freunde eingeladen wurden, verliefen jetzt in einer für die Teilnehmer recht traurigen Art. Nachdem der Bediente den Greis aus der Studierstube in das Speisezimmer geführt und man sich niedergesetzt hatte, fing er zwar, wie sonst, zu sprechen an, aber ganz leise, undeutlich und unzusammenhängend, oft in wache Träumereien übergehend. Schwach und schwerhörig, wie er geworden war, vermochte er keine zusammenhängende Unterhaltung mehr zu führen. Er sprach daher gewöhnlich allein, wobei die Beschaffenheit der Speisen oder dunkle Äußerungen über seinen Gesundheitszustand die Hauptrolle spielten. Nach einer guten halben Stunde pflegte er völlig zu ermüden und wurde in sein Studierzimmer zurückgebracht. "Die Tischgenossen schieden mit trübem Gefühl von der sinkenden Größe des Mannes, mit tiefem Nachdenken über das Unterliegen des Riesengeistes unter der von Jugend auf zarten körperlichen Hülle, die er bis gegen das 80. Jahr erhalten hatte, wo die Macht des Gemüts der Gefühle nicht mehr Meister werden konnte" (Reusch, S. 9 f.). Zuletzt wurden nur noch die ältesten Bekannten zum Mittagessen zugezogen.

Mit der zunehmenden Kraftlosigkeit ging allmählich auch der Lebensmut verloren. So erklärte er Hasse am 2. Juni 1803: "Mit mir kann es nicht mehr lange dauern, ich werde täglich schwächer." Fremde empfing er jetzt überhaupt nicht mehr, oder falls sie sich durchaus nicht abweisen lassen wollten, nur auf kurze Zeit stehend, oder er trat auf einen Augenblick in das Vorzimmer, um ihnen zu sagen: "Was sehen Sie doch an mir altem Manne? Ich bin schwach und matt." Ein andermal sagte er zu Hasse: "Das Leben ist mir eine Last, ich bin müde, sie zu tragen. Und wenn diese Nacht der Todesengel käme und mich abriefe, so würde ich meine Hände aufheben und sagen: Gott sei gelobt!" Todesfurcht kannte er nicht. "Meine Herren," sagte er einmal, "ich fürchte nicht den Tod, ich werde zu sterben wissen ... Ja, wenn ein böser Dämon mir im Nacken säße und mir ins Ohr flüsterte: Du hast Menschen unglücklich gemacht! Dann wäre es etwas anderes." Dennoch hielt er es für unrecht, sich selbst das lieben zu nehmen. Von dem etwas neugierigen Hasse gefragt, was er sich von dem Dasein nach dem Tode verspräche, erwiderte er nach einigem Zögern: "Nichts Bestimmtes", ein andermal: "Davon weiß ich nichts."

Rührend ist es mit anzusehen, wie sich sein Geist bis zuletzt immer wieder gegen die ihn niederdrückende Schwäche zu wehren suchte. Anfangs gelang es ihm wohl noch. So konnte er etwa ein Jahr vor seinem Tode, bei einem Besuche Scheffners, einmal das rechte Wort im Gespräch nicht finden. Aber, als ihm der Besucher einhelfen wollte, ergriff er seine Hand und sprach: "Nein, mein lieber Freund, helfen Sie mir nicht, mein Kopf muß selbst damit heraus." Und er wandte dann den Ausdruck so lange, bis er den richtigen fand, den er mit einem zufriedenen: "Sehen Sie wohl, mein Freund" begleitete. Gerade er, dem Selbständigkeit und Unabhängigkeit immer als das Höchste gegolten, empfand seine wachsende Hilflosigkeit aufs schmerzlichste. Er stieß oft laute Seufzer aus, sprach von der Abhängigkeit und Vormundschaft, unter der er stehe, wollte sich dem Arm seines ihn führenden Dieners entwinden, allein stehen und gehen, alles selbst tun. Sein Geist war willig, allein der arme Leib zu schwach.

Indes allmählich ging es auch mit seinen Geisteskräften immer mehr abwärts. Erschütternd wirkt der Bericht, den Jachmann im 17. Briefe seiner Biographie von dem letzten Besuche bei dem verehrten Lehrer vom 1. August 1803 gibt. Mit schwankendem Schritt trat der gebückte Greis auf den einstigen Lieblingsschüler zu. Dieser umarmte und küßte den lange nicht Gesehenen, aber der Philosoph, "der Stolz und das Glück meines Lebens ... mein Kant", erkannte ihn nicht mehr! Trotz aller Bemühungen von beiden Seiten, trotzdem Jachmann ihn an vieles gemeinsam Erlebte erinnerte, gelang es nicht. Selbst als der Besucher von den einfachsten und vertrautesten Dingen, kleinen körperlichen Umständen, über die er sonst gern sprach, zu reden anfing, "blieben ihm die Gedanken stehen, und er konnte zu manchem kleinen Satze nicht das Schlußwort finden, so dass seine um diese Zeit auf Wasianskis Veranlassung ins Haus genommene hochbejahrte Schwester, die hinter seinem Stuhle saß und dasselbe Gespräch vielleicht schon oft gehört hatte, ihm das fehlende Wort vorsprach, welches er dann selbst hinzufügte"!

Nicht lange vorher war er während einer Abwesenheit des Bedienten so stark gefallen, dass Gesicht und Rücken Wunden davontrugen, deren Schmerz er übrigens mit stoischer Gelassenheit ertrug. Auch die Sehkraft seines rechten Auges — die des linken hatte er schon seit Jahren eingebüßt — nahm um diese Zeit merklich ab, so dass er zu seinem größten Schmerz das sieben Jahrzehnte hindurch so gewohnte Lesen und Schreiben gänzlich aufgeben mußte. Das letzterhaltene Schriftstück von seiner Hand, das sich mit Sicherheit datieren läßt, ist eine eigenhändig geschriebene testamentarische Erklärung zugunsten Wasianskis vom 29. Mai 1803 (Ak.-A. XII, 416). Leseversuche mit den verschiedensten optischen Gläsern halfen nichts. Wenn man in den Augusttagen 1803 Kant beobachtete, "wie er kaum einen Schritt, auch selbst bei Unterstützung und Leitung, mehr gehen, kaum mehr aufrecht sitzen, vor Schwäche kaum mehr verständlich werden konnte, so sollte man glauben, letztere hätte nicht mehr zunehmen können, und der heutige Tag müsse der letzte sein" (Was. 159). Und doch sollte dies langsame Sterben noch ein halbes Jahr dauern.

Wie seine Augen, so begann auch sein sonst so guter Magen ihm allmählich den Dienst zu versagen: kein Fleischgehacktes konnte ihm, zumal da ihm auch fast sämtliche Zähne fehlten, weich und mürbe genug sein. Zugleich verlor sich auch immer mehr der Geschmack, so dass die einst so feine Zunge nicht mehr Süß und Sauer zu unterscheiden vermochte; zuletzt auch aller Appetit. Am Morgen des 8. Oktober erlitt er — nach Wasianskis Vermutung, weil er tags zuvor trotz des Abratens seiner Tischgenossen übermäßig viel von einer Lieblingsspeise (geriebenem englischen Käse) gegessen hatte — zum erstenmal in seinem Leben einen ernsten Krankheitsanfall. Er glitt aus dem Arm seiner ihn führenden Schwester plötzlich zu Boden und fiel in eine todesähnliche Ohnmacht, die etwa eine Stunde währte, und von der er sich erst gegen Abend allmählich erholte. Er blieb zwar nur vier Tage bettlägerig, ohne etwas zu genießen, sah auch vom 13. Oktober ab die gewohnten zwei Tischgäste wieder bei sich, erlangte aber nicht wieder die frühere Heiterkeit. An seinem einst so geistreich belebten Mittagstische herrschte jetzt oft dumpfe Stüle, da er selbst sich nur schwer verständlich machen konnte und andererseits auch nicht gern sah, wenn seine beiden Tischgäste sich bloß untereinander unterhielten, ohne dass er sie verstehen konnte. Im Gegensatz zu früher nahm er die Gerichte hastig zu sich und eilte schon um 2 Uhr nachmittags zu Bette, um einige Stunden unruhig zu schlafen, dafür aber nachts "wohl 20mal" aufzustehen, indem er sich ruhelos und ohne zu wissen, was er wollte, umherführen ließ. Übrigens war sein (gewärmtes) Studierzimmer jetzt auch sein Eß- und Schlafzimmer geworden.

Bei der Gelegenheit mag die eigentümliche Art seines Schlafengehens berührt werden, die er sich in den letzten Jahren angewöhnt hatte. Er zog sich mit Hilfe seines Bedienten, der dabei ganz bestimmte Obliegenheiten hatte, aus, und hing, ehe er sein Oberhemd ablegte, seine alte, aber gutgehende Taschenuhr an einen Nagel zwischen Barometer und Thermometer, denn er wollte gern "alle Zeit- und Wetterbestimmungen nebeneinander haben". Dann setzte ihm sein Diener eine, im Winter zwei Nachtmützen auf, er band sich mit dessen Hilfe sein Nachthalstuch in einer ganz bestimmten Weise um und zog seinen Unter- und Oberschlafrock an, deren letzterer mit einer roten Leibbinde gegürtet ward. Darauf nahm er im Vorzimmer seine Verdauungspillen ein und rechnete noch etwas mit seiner Köchin, um sich sodann schlafen zu legen. In den letzten Monaten, wo jede Nacht an seinem Lager Wache gehalten werden mußte, zog Wasianski zur Erleichterung des schon den Tag über stark angestrengten Dieners noch einen Schwestersohn des Philosophen zu, der gegen reichliches Entgelt und Abendessen mit Johann im Wachen abwechselte.

Trotz seiner großen Schwäche strahlte in hellen Augenblicken Kants Geist zuweilen noch wunderbar aus der gebrechlichen Hülle hervor; und noch mehr sein gutes Herz, indem er seinen pflichteifrigen Bedienten mit allerlei Geschenken belohnte und dem getreuen Wasianski für jede Hilfe gerührten Dank bezeigte, den er öfters, mit der Uhr in der Hand an der Türe sitzend und die Minuten zählend, sehnlichst erwartete. Auf einem Bogen seines nachgelassenen Werkes findet sich die rührende Selbsterinnerung vermerkt: "Den Herrn Diak mit Artigkeit aufzunehmen"; wie in seinem Tagebüchlein von 1803 die Notiz: "Hr. V(igilantius) sowohl in Ansehung seiner Laune und Denkungsart als auch seiner Einsicht, als Menschenfreund und in Geschäften eine seltene Erscheinung." Hatte er in früheren Tagen manchmal mit Aristoteles behauptet: "Meine lieben Freunde, es gibt keinen (sc. wahren) Freund", so gestand jetzt der Hilfsbedürftige seinem Wasianski, er habe eingesehen, dass Freundschaft keine "Chimäre" sei.


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