Starker Staatssinn


Durchschlagender aber noch als die kluge Rücksicht auf das Mögliche und Gegebene wirkt bei unserem Philosophen der starke Staatsgedanke, geschichtlich bedingt durch den Einfluß des straffen fridericianischen Militär- und Beamtenstaats, der doch in der Person des großen Friedrich zugleich Träger des Toleranz- und Humanitätsgedankens war, philosophisch-ethisch durch die strenge Unterordnung des Einzelnen unter den kategorischen Imperativ des Gesetzes. Es klingt hart, ja geradezu absolutistisch, wenn er "alle Widersetzlichkeit gegen die oberste gesetzgebende Gewalt, alle Aufwiegelung, um Unzufriedenheit der Untertanen tätlich werden zu lassen, allen Aufstand, der in Rebellion ausbricht", für "das höchste und strafbarste Verbrechen im gemeinen Wesen" erklärt, wenn er demgemäß sogar die gewaltsame Erhebung der Schweiz, der Niederlande und Großbritanniens gegen ihre tyrannischen Bedrücker mißbilligt, und es hat denn auch schon zu seiner Zeit Verwunderung und Tadel hervorgerufen. Allein die von ihm verteidigte Allgewalt des Souveräns ist bei ihm, wie übrigens auch bei Rousseau, nur die Allgewalt des "personifizierten" Gesetzes, dem gegenüber das zufällige historische Oberhaupt der Staatsverwaltung, die ja auch aristokratisch (wie in Venedig) oder demokratisch (der Konvent) sein kann, nur als sein augenblicklicher "Agent" erscheint (Th. u. Pr., S. 91 A.). Die "einzige bleibende" Staatsverfassung ist die, "wo das Gesetz selbstherrschend ist und an keiner besonderen Person hängt" (Rechtslehre, § 52).1) Ja im Grunde ist der "wahre Oberherr" des Staates "die Idee der ganzen Gesellschaft oder "der allgemeine Mensch" (XV, Nr. 1398 bzw. 1399), oder, wie der Anhang zur 2. Auflage der Rechtslehre sich ausdrückt: "die Idee einer Staatsverfassung überhaupt". Sie ist es, die jedem Volk heilig sein muß, und deshalb darf keine subalterne Gewalt, wenngleich die Organisation des Staates an sich fehlerhaft wäre, dem gesetzgebenden Oberhaupt desselben tätlichen Widerstand entgegensetzen, sondern "die ihm anhängenden Gebrechen müssen durch Reformen, die er an sich selbst verrichtet, allmählich gehoben werden" (a. a. O., S. 207).

Diesen Weg einer "dem Ideal des öffentlichen Rechts angemessenen" Reform zieht der Philosoph an sich vor. Man darf den "Stand eines mit Ungerechtigkeit behafteten öffentlichen Rechts", ja sogar eine Despotie unter Umständen, z. B. bei Bedrohung durch äußere Feinde, "solange beharren lassen, bis zur völligen Umwälzung alles entweder von selbst gereift oder durch friedliche Mittel der Reife nahe gebracht worden". Indes wenn nun einmal eine Revolution durch den Lauf der Dinge herbeigeführt worden ist, so soll man sie als "Ruf der Natur" benutzen, "eine auf Freiheitsprinzipien gegründete gesetzliche Verfassung als die einzige dauerhafte, durch gründliche Reform zustande zu bringen" (Z. ew. Frieden, Anhang).

 

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1) Dass dies in seinem engeren Vaterlande, auch nach der Thronbesteigung des jungen Friedrich Wilhelm III. nicht der Fall war, darüber gab er sich freilich keiner Täuschung hin. "Der Wille des Königs ist Gesetz im Preußischen", sagte er im Sommer 1798 zu Abegg, gelegentlich eines Gesprächs über das neue preußische Gesetzbuch. Das könne er nicht glauben, meinte ungläubig der Süddeutsche, das Gesetz müsse doch über dem König stehen. "O nein!", erwiderte Kant, "und zudem, in wessen Händen ist doch selbst dieses Gesetzbuch, wenn es auch dafür erklärt würde, dass es über dem König wäre." Wie er das meinte, geht aus einer anderen gegenüber demselben Abegg getanen Äußerung hervor: "Wenn ein Jurist noch so richtig räsonniert (= geurteilt) und geschlossen hat, und es kommt ein: Berlin de dato usw., so muß er seine eigene Vernunft gefangen nehmen und sich unterwerfen."


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