Begriff der politischen Organisation


Der Gedanke an das weltgeschichtliche Ereignis im westlichen Nachbarlande beschäftigte ihn so stark, dass er sogar in der ganz anderen Problemen zugewandten 'Kritik der Urteilskraft' (1790) darauf zu sprechen kommt. Als Analogie zu dem naturwissenschaftlichen Begriff des Organismus zieht er dort (in § 65) den damals noch ganz neuen Begriff der politischen Organisation heran. "Sehr schicklich" habe man sich "bei einer neuerdings unternommenen gänzlichen Umbildung eines großen Volks zu einem Staat" des Wortes 'Organisation' häufig "für Einrichtung der Magistraturen usw. und selbst des ganzen Staatskörpers" bedient. "Denn jedes Glied soll freilich in einem solchen Ganzen nicht bloß Mittel, sondern zugleich auch Zweck und, indem es zu der Möglichkeit des Ganzen mitwirkt, durch die Idee des Ganzen widerum seiner Stelle und Funktion nach bestimmt sein." Diese Stelle ist nicht bloß historisch, sondern auch philosophisch hochbedeutsam: sie stellt eine der wichtigsten Weiterbildungen von Kants angewandter Ethik dar. Der bis dahin, bei aller sozialen Tendenz, im letzten Grunde doch individuale, weil bloß an das Individuum sich wendende, kategorische Imperativ wird hier deutlich ins Soziale umgebogen. Kants bisher rein liberalistischer Staatsbegriff (siehe oben) erhält einen sozialen Inhalt durch den Begriff der Organisation, in der jeder Teil durch die Idee des Ganzen bestimmt ist, durch die ein Volk überhaupt erst zum Staat wird. Dass ein solcher politischer Organismus "mehr in der Idee als in der Wirklichkeit angetroffen wird", tut seiner Wertung keinen Eintrag. Denn auf dem Grunde der Idee ist ja die gesamte Ethik des Philosophen verankert, der in "sittlichen Dingen nichts für pöbelhafter" erklärte als die Berufung auf "vorgeblich widerstreitende" Erfahrung.

Gegenüber solcher tief philosophischen Erfassung der Grundfrage der neuen Staatsauffassung bleibt es unwichtig, ob Kant seiner Begeisterung für die neue Staatsform wirklich den Ausdruck gegeben hat, von dem des redseligen Varnhagen von Ense Tagebücher (XI, 187) nach Jahrzehnten berichten. Wie sein Freund Stägemann aus Königsberg ihm erzählt, habe der Philosoph, als er die Verkündigung der französischen Republik erfuhr, lebhaft ausgerufen: "Herr! Nun lasse Deinen Diener in Frieden fahren, denn ich habe das Heil der Welt gesehen!" Eine so theatralische Gebärde entspricht Kants solider Sachlichkeit wenig. Wichtiger jedenfalls ist sein Verhalten zu der späteren Entwicklung der Revolution.


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