Vorwort
Was Gotthold Ephraim Lessing, Wolfgang Goethe und Friedrich Schiller, was Wilhelm von Humboldt, J. J. Winckelmann, J. G. Herder und anderen Geistesgrößen unseres Volkes längst zuteil geworden ist, das besitzen wir von Immanuel Kant noch nicht: eine umfassende, wissenschaftlichen Ansprüchen genügende und doch für alle wirklich gebildeten Deutschen lesbare Biographie, im Sinne der Darstellung seines Lebens und seines Lebenswerkes. Wenn jetzt der Verfasser mit vorliegendem, seit zwölf Jahren vorbereiteten Buche den Versuch einer solchen macht, so will er nicht bloß den Lebenslauf des größten deutschen Philosophen von neuem erzählen, auch nicht nur dessen System darstellen oder über Entstehung und Wirkung seiner Schriften im einzelnen berichten: das alles ist von ihm bereits an anderen Stellen geschehen. Sondern er will zeigen, wie Kants Werk aus seinem äußeren und inneren Leben, aus seiner Persönlichkeit, auf dem Hintergrunde seiner Zeit mit Notwendigkeit hervorgewachsen ist.
Wie weit auch die Lehre eines Philosophen bedingt ist durch seine Persönlichkeit, wie weit der bekannte Satz Fichtes seine Richtigkeit hat: "Was für eine Philosophie man wähle, hängt davon ab, was für ein Mensch man ist", das ist freilich ein Problem für sich, das hier nicht weiter erörtert werden kann. Der Biograph jedenfalls muß sie in erster Linie aus dem Leben und der Person seines Helden entwickeln.
Der Plan zu dem Buche stieg in mir auf während der Arbeit und noch stärker nach der Vollendung meiner kleinen Kant-Biographie ('Kants Leben', Felix Meiner, 1911, 223 Seiten), wie das der aufmerksame Leser schon aus deren Vorwort merken konnte. Für die Ausführung boten sich zwei verschiedene Wege dar. Erstens der einer sogenannten "wissenschaftlichen" Biographie mit dem üblichen kritischen und gelehrten Apparat; was nach so mancher dankenswerter Vorarbeit der Kantphilologie in den letzten Jahrzehnten, vor allem der vorzüglichen Ausgabe des Briefwechsels und eines großen Teiles des Nachlasses in der Akademie-Ausgabe (Band X—XVI), durchaus im Bereiche der Möglichkeit lag. Dass ich eine solche wohl hätte abfassen können, glaube ich unter anderem durch meine kritische Quellenstudie über Die ältesten Kantbiographien (Ergänzungsheft der Kantstudien, Nr. 41, 1918) bewiesen zu haben, die ich — ebenso wie meine Charakterstudie Kant als Deutscher (Reichl, Darmstadt 1918) — als Ergänzungen zu vorliegendem Werk anzusehen bitte. Ich habe mich auch in der Sammlung des Materials innerhalb der letzten 14 Jahre keine Mühe verdrießen lassen, habe z. B. eine zweimalige Reise (1912 und 1916) nach dem fernen Königsberg nicht gescheut und bin auch, auf meine diesbezügliche Bitte bei Gelegenheit der Tagung der Kantgesellschaft in Halle Ostern 1914, von manchen Seiten in dankenswerter Weise unterstützt worden.
Allein ich muß diejenigen persönlichen oder Kantfreunde zu meinem Bedauern enttäuschen, die eine solche "wissenschaftliche", das heißt im Grunde doch nur gelehrte Kantbiographie von mir erwartet haben. Gewiß, exakte Erforschung der Einzeltatsachen ist die nächste und unumgänglichste Vorbedingung einer auf Wahrheit und möglichste Vollständigkeit Anspruch machenden Gesamtdarstellung. Aber mein Ehrgeiz ging höher. Ich wollte kein Buch bloß für die Gelehrten liefern, sondern ich wollte den großen Philosophen als Menschen und Denker meinen Zeitgenossen lebendig machen. Ich wollte ein Bild entwerfen, das den alten Kant, wie er lebte und dachte, so weit es einem Nachgeborenen möglich ist, leibhaftig vor unseren Augen wieder erstehen ließe; ich habe ihn daher auch mit Absicht möglichst häufig selbst zu Worte kommen lassen, anstatt mehr oder minder geistreiche Gedanken über ihn zu äußern. Und, obschon völlige Objektivität für den Historiker und erst recht für den Biographen, den Liebe zu seinem Gegenstand beseelen muß, unmöglich bleibt und, wäre sie erreichbar, zu blutleerer Farblosigkeit führen müßte, so habe ich doch auch in der Darstellung seiner Philosophie den historischen Kant, wie er meinen Augen erscheint, zu schildern gesucht, unabhängig von allen "Schul"-Rücksichten.
Jenem Lebendigmachen sollte ursprünglich noch eine größere Reihe zeitgetreuer Illustrationen (Bildnisse Kants aus seinen verschiedenen Lebensaltern, Porträts interessanter in sein Leben hineinspielender Persönlichkeiten, Abbildungen der Hauptstätten seines Lebens und seiner Wirksamkeit, Faksimiles und dergl.) dienen, die schon im Jahre 1916 zusammengestellt waren; wie denn überhaupt das Manuskript bereits im Frühjahr 1917 im wesentlichen fertig vorlag. Der Weltkrieg und seine Nachwehen haben, wie so manches andere, auch diese Absicht zunichte gemacht. Ich bin meinem langjährigen Verleger Herrn Dr. Felix Meiner zu Danke verpflichtet, dass er trotz aller Schwierigkeiten das Buch übernommen und zum Druck gebracht hat, so dass zur Jubelfeier von Kants 200. Geburtstag (22. April 1924) der erste Band sicher erschienen sein und der zweite sehr bald nachfolgen wird. Kürzungen mußten freilich noch an manchen Stellen eintreten, das Wesentliche vom Unwesentlichen geschieden und der literarisch-bibliographische Anhang auf das Notwendigste beschränkt werden, um das Werk nicht ins Ungemessene anschwellen zu lassen.
Dem Danke an den Verlag schließe ich denjenigen an die zahlreichen Gelehrten an, die mich durch wertvolle Beiträge und Ratschläge in meiner Arbeit unterstützt haben, deren Namen ich hier nicht sämtlich nennen kann. Vor allem gilt mein wärmster Dank den nie ermüdenden Freunden Arthur Warda und Otto Schöndörffer in Königsberg, dann Herrn Professor Arthur Liebert (Berlin), Oberbibliothekar Dr. Max Ortner (Klagenfurt) und dem inzwischen verstorbenen Geh. Admiralitätsrat Dr. Abegg (Berlin); weiter den Herren Oberschulrat Gerschmann (Königsberg), Amtsgerichtsrat Goeschen (Merseburg), Gymnasialprofessor A. Rosikat † (Königsberg), Prof. H. Vaihinger (Halle), Oberbibliothekar Emil Reicke und Fräulein R. Burger (Göttingen) sowie den Bibliotheksverwaltungen der Universitäten Königsberg, Marburg, Göttingen und Münster für die freie Benutzung ihrer Bücherschätze. Besonderen Dank habe ich auch der Buchhandlung von Gräfe & Unzer in Königsberg zu sagen, dass sie die Wiedergabe des dem Bande beigegebenen Beckerschen Bildes (nach dem für die Festschrift der Königsberger Ortsgruppe der Kant-Gesellschaft hergestellten Farbenlichtdruck) gestattete.
Der Unvollkommenheit meines Werkes gegenüber einem Genius wie Immanuel Kant bin ich mir vollkommen bewußt. Aber ich mußte dies Buch schreiben. Es ist mir, als käme erst mit ihm meine Lebensarbeit an Kant zum Abschluß und zur Krönung. Und ich denke, eine mehr als 4½ Jahrzehnte hindurch geübte Beschäftigung mit dem Königsberger Weisen von der Zeit an, wo in meiner Vaterstadt Marburg Hermann Cohen den 17jährigen Studenten in die Tiefen Kantischen Denkens einführte, bis heute, wo ich selbst an der westfälischen Universität die Philosophie Kants zu lehren die Freude habe, gab mir ein gewisses Recht zu dem noch von keinem anderen unternommenen Wagnis. Wie weit es gelungen ist, das haben nun meine Leser zu entscheiden. Ich hoffe, sie haben, wenn sie das Buch aus der Hand legen, von Kants Geiste einen Hauch verspürt.
Münster, 12. Februar 1924
Karl Vorländer