Macht und Recht


Kant hat sehr wohl gewußt und es in seiner Friedensschrift ausdrücklich hervorgehoben, dass die Herrschaft der heutigen Mächte noch auf Gewalt gegründet ist: wenn auch der Rechtsgedanke soweit vorgedrungen sei, dass man ihn wenigstens in der Theorie anzuerkennen sich bewogen fühle, so ersinne man doch "hundert Ausflüchte und Bemäntelungen", um ihm in der Praxis auszuweichen. Er hat diese klare Erkenntnis einmal gegen Abegg am 12. Juni 1798 in die einfachen Worte gekleidet: "Es ist nicht zu erwarten, dass Recht vor der Macht komme. Es sollte so sein, aber es ist nicht so." Wenn er trotzdem seine, wie er voraussah, von den "Praktikern" als "sachleer" gescholtenen Ideen in Wort und Schrift seinen Zeitgenossen zu verkünden nicht müde ward, so besaß er keineswegs geringere Weltkenntnis und Weltklugheit als jene, wohl aber — ein gut Stück sittlichen Idealismus dazu. Und er zog sich trotz seines hohen Alters nicht, wie selbst die Besten seiner Zeit, wie Lessing und Herder, Schiller und Goethe sorgfältig vor der Berührung mit der rauhen politischen Wirklichkeit zurück. Sondern er suchte dem idealen Weltbürgertum, das jene nur in der Welt der Dichtung verwirklichen zu können meinten, den einzig vernunftgemäßen Ausdruck im bewußten Wirken für eine langsame, aber stetige Annäherung an sein politisches Ideal einer "allgemein das Recht verwaltenden bürgerlichen Verfassung" zu geben, deren höchstes und letztes Ziel auf Erden er in einem freien Bund freier Völker erblickte. Es ist sehr leicht, einen politischen "Theoretiker" wie unseren Kant mit dem Satze abzutun, dass er von den "realen Verhältnissen" nichts verstanden habe: schallt doch dieser Vorwurf noch heute jedem entgegen, der ideale Werte in die politische Praxis einführen will. Aber es ist ebenso leicht wie falsch. Wir sind augenblicklich von jenem politischen Endziel Kants weit entfernt. Dennoch bleiben die Worte wahr, die wir im 'März' Sommer 1913 schrieben: "Unser eigenes politisches Wirken trotz aller menschlichen Torheiten und Unvollkommenheiten" — und setzen wir jetzt hinzu: Schlechtigkeiten und Niedrigkeiten —, "trotz aller Fehl- und Rückschläge in dem Lichte einer ewig vor uns stehenden, wenn auch vielleicht nie völlig zu lösenden sittlichen Aufgabe zu betrachten: das ist es, was wir auch heute noch, ja heute mehr denn je von Kant als Politiker lernen können."


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Seite zuletzt aktualisiert: 18.01.2007 
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