d) Die sichtbare und die unsichtbare Kirche
Der Zweck der Religionsschrift


Kants Urteil über die tatsächliche geschichtliche Entwicklung der christlichen Kirche, in der 'Religion innerhalb' (S. 151 f.) lautet, wenigstens für die Zeit bis zur Reformation, so ungünstig wie nur möglich und wird zum Schluß in die Worte zusammengefaßt: "Diese Geschichte des Christentums (welche, sofern es auf einem Geschichtsglauben errichtet werden sollte, auch nicht anders ausfallen konnte), wenn man sie als ein Gemälde unter einem Blick faßt, könnte wohl den Ausruf rechtfertigen: tantum religio potuit suadere malorum (= zu so viel Unheil konnte die Religion den Anlaß geben)!" Allein Kirche ist nicht Religion. Und so erhebt sich über der wirklichen, bestehenden, sichtbaren immer wieder das Ideal der unsichtbaren Kirche. Es gibt wohl verschiedene Arten "statutarischen" Kirchenglaubens, "aber nur eine einzige, für alle Menschen und in allen Zeiten gültige Religion". "Verschiedenheit der Religionen ein wunderlicher Ausdruck! Gerade, als ob man auch von verschiedenen Moralen spräche" ('Zum ewigen Frieden', S. 147, Anm.). "Jetzt ist die Religion nichts anderes als eine Zivilisierung durch eine Disziplin"; "endlich" aber wird unser eigenes Bedürfnis "die Moralisierung erzwingen, und zwar durch Erziehung, Staatsverfassung und Religion" (Ak.-Ausg. XV, 641). Und diese Religion wird sein eine solche "des Geistes und der Wahrheit", die in unser aller Herz geschrieben ist, die "die Priester aufhebt und nur die Geistlichen läßt", die "die Satzungen wegnimmt und nur die Vorschrift der Vernunft übrig läßt", die "dem Einfältigsten ebenso klar ist als dem Gelehrtesten" (ebd. S. 898).

Den gleichen Gedanken vertritt die in demselben dritten Kapitel der Hauptschrift entwickelte Idee eines, eben durch jene "unsichtbare Kirche" dargestellten Reiches (oder Volkes) Gottes auf Erden. Wenn Cohen 1) in diesem wohl dem Sprachgebrauch des Pietismus entlehnten, aber doch auch von Semler und Herder gebrauchten und auch von Kant selbst, wie wir bereits sahen (XV, Nr. 1396) schon um 1773 angewandten Begriff eine Gefahr für die Selbständigkeit des durch Kants Ethik gestifteten rein sittlichen "Reichs der Zwecke" erblickt, so läßt sich dem entgegenhalten, dass das "Reich Gottes auf Erden" kein messianisches, sondern ein moralisches, "durch bloße Vernunft erkennbares" Reich sein soll (Relig. 157), dass es "inwendig in uns" sein will, dass es als eine "Gesellschaft nach Tugendgesetzen" gekennzeichnet wird, um dem rastlos sie anfechtenden Bösen entgegenzuwirken (ebd. 106 f.). Aber freilich, als sein "Urheber" (176) und "oberster Gesetzgeber" (115) erscheint Gott, und insofern wird allerdings die volle Autonomie der Sittlichkeit nachträglich beeinträchtigt. Doch das hängt mit der praktischen Tendenz von Kants 'Religion innerhalb' zusammen, die eben kein Glied seines Systems bildet.

Den wirklich großen, handelnden Mann macht die Verbindung von prinzipieller Entschiedenheit des Willens und Schärfe des Geistes mit der Sophrosyne der Alten, der maze unserer Altvordern, das heißt dem Blick für das praktisch Erreichbare, der Besonnenheit, die, um ihrem Ziele wirklich näher zu kommen, an das Gegebene anknüpft. Das nehmen wir bei unserem Kant auf allen Gebieten des sittlichen Lebens wahr: in Tugendlehre und Recht, in Pädagogik und Politik; so auch in der Religion. "Der Philosoph ... muß doch auch auf die Möglichkeit der Ausführung seiner Ideen in der Erfahrung Rücksicht nehmen, ohne welche diese bloß leere Ideale ohne objektive praktische Realität zu sein in Verdacht kommen müßten, mithin keine öffentliche Religion (davon doch der Begriff in den Umfang seines Geschäftes mit gehört) dadurch begründet oder nur als möglich vorgestellt werden könnte." So schreibt Kant in einem erst in unserer Zeit entdeckten nachgelassenen Entwurf 2) seiner Schrift und enthüllt damit deren innerstes Motiv. Es bedarf daher auch, "um sie ihrem wesentlichen Inhalt nach zu verstehen", keiner Kenntnis des kritischen Systems, sondern nur "der gemeinen Moral" (2. Vorrede, S. 13). Und, wenn auch religionsvergleichende Blicke auf die Antike, den Parsismus, die Religionen der Inder, Juden, Germanen und Naturvölker bei seinen ethnographischen Interessen nicht ausgeschlossen sind, so kommt als "wahre allgemeine Kirche" (S. 185) im Grunde doch nur die christliche in Betracht. In diesem Sinne erklärt denn auch die Vorrede zur zweiten Auflage den von manchen mißverstandenen Titel. Er will von der "Offenbarung", das heißt der kirchlichen Religionslehre ausgehen und diese "als historisches System an moralische Begriffe bloß fragmentarisch halten", um zu sehen, wie weit eine "Verträglichkeit" oder gar "Einigkeit" sich erzielen läßt. Es ist einer jener "Koalitionsversuche", wie sie sich zwischen reiner Rechtslehre und empirisch bedingter Politik, reiner Psychologie und medizinischer Physiologie, und so eben auch zwischen reiner Religions- und geoffenbarter Kirchenlehre "noch immer zutragen" (an Sömmerring, 10. Aug. 1795).

Und da das kirchliche Christentum für ihn nach seiner ganzen Umgebung vor allem in der Form der evangelischen Landeskirche in Betracht kam, so ist die Schrift tatsächlich eine Auseinandersetzung mit dieser, deren "Glaubenslehre er in dieser Bearbeitung beständig ins Auge gefaßt" (Entwurf, in meiner Ausgabe der »Religion" S. XCI). Daher die das ganze Buch durchziehende Berücksichtigung der Bibel,3) besonders des Neuen Testaments: nicht weniger als 75 verschiedene Bibelstellen sind, wie ich (a. a. O., S. 258—260) gezeigt habe, teils im Wortlaut, teils ohne denselben zitiert. Daher die Behandlung aller wichtigen Dogmen der lutherischen Kirche: der Wiedergeburt, der Rechtfertigung und stellvertretenden Genugtuung, der Dreieinigkeit, der Lehre von der Berufung und Erwählung, der Wunder und der Sakramente. Grundsätzlich ist natürlich auch der katholische Glaube nicht ausgeschlossen. So schreibt er seinem Anhänger, dem katholischen Professor Matern Reuß (vgl. Bd. I, S. 429) in Würzburg, bei der Übersendung des Buches in einem freilich nur im Entwurf enthaltenen Bruchstück: er sei darauf bedacht gewesen, "keiner Kirche einen Anstoß zu geben", indem er lediglich den Glauben behandle, der sich bloß auf die Vernunft gründe, mithin unter "allen Glaubensarten" sich behaupten könne und "das Herz nicht von dem empirischen Glauben in Ansehung irgendeiner Offenbarung verschließt, sondern, wenn sie in Einstimmung mit jenem stehend befunden wird, es für dieselbe offen erhält" (Briefw. II, S. 416). So hat auch nach Hippel (S. W. XII, 305) "Herr Kant, der denn doch gewiß nicht glaubt, was die Kirche glaubt, sie oft gegen mich verteidigt".

Man hat dem Philosophen wegen dieser Stellungnahme oft den Vorwurf allzu großer Nachgiebigkeit und Vorsicht, ja Schwächlichkeit gemacht. Sicherlich, wenn schon der jüngere Mann, so ging der Greis schweren äußeren Konflikten, wenn sie ohne Verletzung seiner Grundsätze zu vermeiden waren, lieber aus dem Wege, wie wir das gelegentlich schon wahrgenommen haben und später noch deutlicher sehen werden. Und es ist wahr, er gibt dem jungen Fichte auf dessen, freilich auch eine solche Antwort provozierende, Anfrage, wie man bei der gegenwärtigen strengen Zensur dennoch seinen religiösen Ansichten öffentlichen Ausdruck geben könne (an Kant, 23. Januar 92), ziemlich gewundene Ratschläge. Er solle einen deutlichen Unterschied zwischen dem dogmatischen und einem rein moralischen Glauben machen, aber ihre Vereinbarkeit behaupten. "Ich glaube", das heißt, "ich habe den moralischen Glauben in Ansehung alles dessen, was ich aus der Wundergeschichtserzählung zu innerer Besserung für Nutzen ziehen kann"; "hilf meinem Unglauben", das heißt, "ich wünsche auch den historischen, sofern dieser gleichfalls dazu beitragen könnte, zu besitzen" (an Fichte, 2. Febr. 92). Desgleichen sind die einschränkenden Nebensätze und Verklausulierungen mit "obwohl", "nur dass", "als ob", "wobei", "oder" und ähnliches in der 'Religion innerhalb' an denjenigen Stellen, wo er sich mit der kirchlichen Dogmatik auseinandersetzt, besonders häufig. Allein derselbe moderne Theologe,4) der auf diese eigentümliche Stilmethode hinweist, meint dennoch, dass im ganzen doch die Grundauffassung des Buches "nicht allzu sehr beeinträchtigt" werde "durch diese Winkelzüge, zu denen eine bornierte Pfaffenwirtschaft und sein korrekt-legitimistischer Sinn den suveränen und alle diese Menschlichkeiten mit beißender Ironie betrachtenden Denker genötigt haben" (a. a. O., S. 69).

Nach meiner Meinung läßt sich doch mehr sagen. Kant trieb nicht bloß die äußere Rücksicht auf die Zensur und das Gesetz, sondern auch ehrlicher Versöhnungs- und Läuterungseifer, verbunden mit Wirklichkeitssinn. "Ich wollte", so sagt ein Loses Blatt (Reicke, S. 59), "die Religion im Felde der Vernunft vorstellig machen, und zwar so, wie solche auch in einem Volke als Kirche errichtet werden könne. Da konnte ich nun solche Formen nicht füglich erdenken, ohne wirklich vorhandene zu benutzen." Er will einerseits den "vernünftigen Teil der Menschen", der "bei zunehmender Kultur, man mag ihn niederdrücken, so sehr man will, allmählich sehr groß wird", für ein freier aufgefaßtes Christentum gewinnen, dass sie gleich König Agrippa erklären: "Es fehlt nicht viel, dass ich ein Christ würde" (2. Entwurf zur Vorrede, in meiner Ausgabe S. XCII). Und er will andererseits den "statutarischen" Glauben der Offenbarungsgläubigen zum reinen Religions- oder Vernunftglauben läutern. Die christliche Religion besteht aus zwei "heterogenen" Teilen: 1. der rein moralischen Art, Gott zu dienen, 2. der "biblischen" Religion mit dem "Glauben an Christum sein Verdienst und Mittleramt usw.". Beide zusammenzuschmelzen, würde ein "bastardartiges" Produkt hervorbringen; "denn es sind in der Tat zweierlei Religionen". Aber "die eine zum Vehikel [Förderungsmittel] der anderen zu machen", soweit es ohne Glaubenszwang geschieht, "verletzt die Kinheit nicht" (bei Reicke, S. 77).

Und nun Die Methode der 'Religion', die aus diesem seinem Zwecke folgt.

 

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1) Kants Begründung der Ethik. 2. Aufl. S. 479.

2) Von W. Dilthey in den Rostocker Kanthandschriften gefunden; abgedruckt auch in der Einleitung zu meiner Ausgabe der 'Religion', S. LXXVII ff.

3) Kants eigenes Bibel-Exemplar, eine Baseler Ausgabe von 1751 mit Vorrede von Dr. Hieronymus Burkhardt, war nach seinem Tode an Professor Gensichen und nach dessen Abscheiden (1807) an einen Superintendenten Neumann in Angerburg gekommen, der in den Preußischen Provinzialblättern von 1840 (Bd. 23, 1. Heft) darüber berichtet hat. Leider ist es seitdem verschollen. Nach Neumann hätte Kant "überall in derselben eigenhändig Anmerkungen gemacht", so z. B. gleich das erste weiße Blatt "ganz mit chronologischen Bemerkungen beschrieben", auch "sehr viele Stellen unterstrichen". Was Neumann dann aber S. 84 ff. an Beispielen bringt, ist sehr mager. Die sehr kurzen Glossen zur Genesis scheinen bei Gelegenheit der Abhandlung 'Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte' (1786, vgl. Buch III, Kap. 3) niedergeschrieben zu sein. Auch die 13 zum Neuen Testament (5 zu Ev. Matthäi, 6 zu Lukas, 2 zu Johannes) sind von keinem besonderen Belang, meist nur interpretierender Art. Ob sie bei der erneuten Lektüre vor Abfassung der 'Religion innerhalb' hingeschrieben sind, ist mir sehr zweifelhaft, da keine von ihnen dort benutzt ist. — Er selbst sagt einmal auf einem Losen Blatte von sich: "Ich lese die Bibel gern und bewundere den Enthusiasm in ihren neutestamentischen Lehren."

4) E. Tröltsch in seiner überhaupt für unser Kapitel sehr lesenswerten Abhandlung: 'Das Historische in Kants Religionsphilosophie'. Kantstudien IX, S. 21—154.


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