Siebentes Kapitel

Tischgesellschaften und Tischreden.
Letzter geselliger Verkehr


Seitdem zu Ende der 80er Jahre Kraus sich von dem gemeinsamen Mittagsmahl in Kants Haus zurückgezogen hatte, begann dieser — wenn er, wie es immer mehr die Regel ward, daheim speiste — sich zur Gesellschaft mehrere, gewöhnlich drei oder vier "guter Freunde" (so lautet sein eigener, 1792 hinzugefügter Beisatz zu der betreffenden Stelle von Borowskis Biographie) einzuladen. Jedenfalls nicht wesentlich mehr; denn, damit jeder etwas von dem anderen habe, müsse die Tischgesellschaft klein sein, dürfe die Zahl der Gäste nicht unter die Zahl der Grazien, aber auch nicht über die der Musen hinausgehen.1) Sein großer Eßtisch, der heute in der Lesehalle des Königsberger Tiergartens steht, und der auch auf dem Gemälde Doerstlings nachgebildet ist, hätte allerdings auch einer größeren Anzahl Platz: gewährt, und in der Tat waren zur Feier seines letzten Geburtstages (22. April 1803) sämtliche erreichbaren Tischfreunde, etwa 18 an der Zahl, daran vereinigt. Das war jedoch nur eine Ausnahme; schon des Philosophen anständiges, aber einfaches Tischgerät wäre auf große Gesellschaften gar nicht eingerichtet gewesen: in seinem gerichtlich aufgenommenen Nachlaß fanden sich, nur neun silberne Löffel.

Seine wechselnden Tischgenossen ließ er absichtlich stets erst, am Morgen des nämlichen Tages einladen, weil er nicht wollte,, dass sie, "die so gut seien, mit ihm vorlieb zu nehmen", seinetwegen eine andere Einladung ausschlügen. So schickte er 1798 auch zu Abegg am selben Morgen früh seinen Bedienten: ob er auch sicher kommen würde; ein andermal bat er ihn, im Falle der Verhinderung gleich selbst einen anderen Tag zu bestimmen.

Die Geladenen versammelten sich ¾ in seinem Studierzimmer. Er selbst war stets im Gesellschaftskleid. Unpünktlichkeit vermerkte er übel, zumal da er selber seit 24 Stunden nicht gegessen und infolgedessen starken Appetit hatte. Dann rief er der Köchin zu: "Es ist drei Viertel!", mahnte den Bedienten zum Anrichten und gab ihm selbst die silbernen Löffel aus dem "Büro", einem aufklappbaren, mit vielen Fächern versehenen Schreibsekretär (heute im Kant-Zimmer zu Königsberg); sein eigener Eßlöffel — heute auf der Universitäts-Bibliothek — war mit seinen Initialen versehen. Sobald alles bereit war, trat Lampe feierlich in die Tür mit dem Rufe: "Die Suppe ist auf dem Tische!" Dann ging man sofort, die Gäste voran, in das Eßzimmer und setzte sich dort ohne weiteres an den Tisch; "wenn man Anstalten zum Beten machen wollte, so unterbrach er sie durch Nötigen zum Sitzen" (Hasse). Waren bloß zwei Gäste da, was in seinen letzten Jahren die Regel wurde, so saß Kant gegen das Fenster, die beiden anderen zu seinen Seiten einander gegenüber. Mit dem Worte "Nun, meine Herrn!" nahm er die Serviette in die Hand und lud zum Zulangen ein, wobei er alles Komplimentieren und Sichzieren haßte. Von dem Inhalt des von ihm selbst gemachten Küchenzettels 2) haben wir schon im ersten Kapitel dieses Buches berichtet. Was jedoch die eigentliche Würze dieser Tischgesellschaften bildete und dieselben bald in ganz Königsberg und darüber hinaus berühmt machte, war die geistige Nahrung, die er seinen Gästen gab.

Wie früher in anderen Häusern, so war er jetzt auch im eigenen die Seele der Gesellschaft. Von Wasianski wird ihm sogar eine gewisse Methode in deren Leitung nachgesagt. In der Studierstube und bei dem Gang nach dem Speisezimmer sprach man zunächst vom — Wetter (was Kant auch an zwei Stellen seiner Anthropologie rechtfertigt). Dann, sobald man gemütlich bei der Suppe saß, begann er mit Worten wie: "Nun, meine Herren und Freunde, lassen Sie uns auch etwas sprechen! Was gibts guts Neues?" eine allgemeine Unterhaltung einzuleiten. Er pflegte zu sagen, man müsse vom Kalbsbraten anfangen und den Diskurs beim Kometen, ohne Unterbrechung des Zusammenhangs, endigen können! Natürlich ließ man, schon aus bloßer Ehrfurcht, aber auch aus Interesse, den großen Gelehrten oft allein reden. Er selbst maßte sich das keineswegs an, sondern unterhielt sich mit jedem über das, was den Betreffenden nach seiner Meinung besonders interessierte, ohne jedoch das allgemeine Interesse aus dem Auge zu verlieren, öfters hob er besonders fesselnde Neuigkeiten oder Briefe, die er erhalten, als Leckerbissen für den Nachtisch auf. Vor allem war er besorgt, keine "Windstille", das heißt ein Aufhören der Unterhaltung, eintreten zu lassen. Und, wie er selbst sich bei Tische keineswegs als ernsten Denker, sondern als zwanglosen Plauderer gab, so wünschte er Offenheit und Ungezwungenheit auch bei seinen Gästen.

Die Gegenstände der Unterhaltung waren ebenso vielfältig wie sein Wissen. Wir werden später einige besonders anschauliche Berichte über Tischgespräche mit Kant im Zusammenhang wiedergeben und wollen deshalb hier nur deren bevorzugteste Gebiete nennen. Dahin gehörte zunächst das große und mannigfaltige Feld der Naturwissenschaften, namentlich deren neueste astronomische, elektrochemische, medizinische Entdeckungen. Desgleichen anziehende kleine und große Züge aus dem Gebiet der Völkerkunde. Wenn Hasse aus Kants Gesprächen mit ihm in seinen letzten Jahren besonders viele Etymologien, das heißt oft recht gewagte Wortableitungen erwähnt, so mag das mit der Tatsache zusammenhängen, dass Hasse selbst Sprachgelehrter war. Dass übrigens Kant das "Etymologisieren" liebte, weiß jeder Kenner seiner populären Schriften, namentlich der Anthropologie. Das Gebiet aber, in dem er seit Beginn der großen Revolution nicht bloß in seinen Gedanken, sondern auch in seinen Gesprächen "fast schwelgte", war das der Politik (vgl. Kap. 4). Über die äußere Politik redete er oft so scharfsinnig wie ein kluger Diplomat; ja sogar in militärischen Dingen sah er manchmal Gang und Zweck der Operationen richtig voraus. "Übrigens zeigte er beim Zeitungslesen eine wichtige, noch heute auf diesem Feld den größten Gelehrten oft fehlende, Eigenschaft: seine kritische Ader: "einer Nachricht, der Tag und Ort fehlte, sie mochte übrigens so wahrscheinlich sein, als sie wollte, traute er nie und hielt sie nicht der Erwähnung wert" (Wasianski).

Mit dem Ernste wußte er aber auch den Scherz "meistermäßig zu vereinen" (Scheffner). Er "heiterte durch sehr ausgebreitete Belesenheit, durch einen unerschöpflichen Vorrat von unterhaltenden und lustigen Anekdoten, die er ganz trocken, ohne je selbst dabei zu lachen, erzählte und durch eigenen echten Humor und treffende Repliken jede Gesellschaft auf" (Reichardt). Gern erzählte er z. B. Anekdoten über Friedrich den Großen. Verhaßt war ihm nur eigentlicher Klatsch, z. B. über Stadtneuigkeiten. Er wußte gut, ja "mimisch" (Hamann) zu erzählen und verschmähte es dabei auch nicht, den heimischen Dialekt zu gebrauchen oder den jüdischen nachzuahmen, auch gelegentlich recht derbe Volksreime wiederzugeben. Bei dieser Gelegenheit wollen wir übrigens aus jenem altvaterisch-komischen Hochzeitsgedichte Richeys (s. Buch III, Kap. 5), das er noch in seinen letzten Jahren auf Wunsch alter Freunde öfters zum Besten geben mußte, eine auf die philosophischen Hagestolzen gehende Stelle zitieren:

 

"Der neuen Weisheit größte Helden

Gehn mit Ideen nur zur Trau,

Ich selbsten, ohne Ruhm zu melden,

Ich selbsten habe keine Frau",

 

der dann aber doch die versöhnende Schlußwendung folgte:

 

"Die Regel bleibt: Man muß nicht freien,

Doch excipe [d. h. nimm aus] solch würdig Paar!"

 

Übrigens, wenn Reichardt und Voigt hervorheben, dass Kant bei solchen humoristischen Wiedergaben nie oder "fast nie" gelacht habe, so zeugt das nur für seinen trockenen Witz. Dagegen war er durchaus keine so ernsthafte Natur, dass er in Gesellschaften überhaupt nicht gelacht hätte; er lachte eben über die Einfälle anderer.

Darin jedenfalls stimmen alle Berichterstatter überein, dass, wer ihn nicht kannte, an seinen Tischreden schwerlich den gelehrten Denker erkannt hätte. Wohl aber den geistvollen Kopf, der jedem, auch dem geringfügigsten, Gegenstand einen Sinn zu geben verstand. Wurden im Laufe eines ernsteren Gespräches vernünftige Einwände gegen ihn erhoben, so veranlaßten sie ihn zu dessen größerer Lebhaftigkeit. Hartnäckigen Widerspruch vertrug er allerdings, je älter er wurde, um so weniger. Schweifte er selbst zu weit vom Thema ab, so war er dem Freunde dankbar, der ihn durch eine kurze Bemerkung wieder darauf zurückführte.

 

 

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1) So in der Anthropologie, deren unterhaltende Beschreibung einer idealen Tischgesellschaft (§ 88, S. 219—224) man überhaupt als Illustration. zu unserer folgenden Schilderung durchlesen möge.

2) Selbstverständlich gab es auch hierin mannigfache Abwechslung; er merkte sich Lieblingsgerichte seiner Gäste und ließ sie dann für diese zubereiten; durch freimütige Äußerung eigener Wünsche machte man ihm Vergnügen.


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