In Norddeutschland und Bonn


Wie sehr Kants Name schon 1793 auch in abgelegeneren Landschaften Norddeutschlands bekannt war, geht aus der kuriosen Tatsache hervor, dass damals im Mecklenburgischen ein angeblicher Magister Kant umherzog, der sich für den — Sohn Immanuels ausgab und "das dortige, besonders das literarische, Publikum brandschatzte". Der Philosoph schickte selbst die Nummer der Jenaer Literaturzeitung, die vor diesem "Vagabonden" warnte, seinem Biographen Borowski zur Verwendung zu. In dem damals noch schwedischen Greifswald hielt der Theologe G. Schlegel moralphilosophische Vorlesungen nach Kantischen Grundsätzen (an K., 8. Juni 96).

In Halle gewann der Kritizismus um die Mitte der 90er Jahre, außer dem Privatdozenten Morgenstern, einen besonders eifrigen Anhänger in J. H. Tieftrunk, der eigentlich zur Versöhnung von Philosophie und Theologie von der Regierung dorthin geschickt war, aber bald — ähnlich wie der früher nach Königsberg gesandte Kiesewetter in Berlin — ganz zu Kant überging und mit dessen Vollmacht seine kleinen 'Vermischten Schriften' in drei Bänden (1797—1799) herausgab, nachdem der Philosoph selbst die noch 1793 bestandene Absicht einer eigenen verbesserten Neuausgabe aus Altersrücksichten aufgegeben hatte. Übrigens interessierte sich in Halle auch der große Philologe Friedrich August Wolf für die Philosophie Kants, wenigstens für die Kritik der Urteilskraft; Abegg mußte ihm auf seiner Rückreise von Königsberg unter anderem das Äußere Kants, bis auf dessen "kindlichen" Blick, genau beschreiben. — Von der damals noch bestehenden Wittenberger Hochschule sandte ihm seine ersten schriftstellerischen Erzeugnisse der junge W. T. Krug, der später sein Nachfolger in Königsberg werden sollte. — Nicht weniger ergeben war ihm in dem benachbarten Magdeburg der reformierte Prediger G. S. A. Mellin, der 1791 dort eine Gesellschaft zum Studium der kritischen Philosophie stiftete und sich später durch seine 'Marginalien und Register', namentlich aber sein großes sechsbändiges 'Wörterbuch der kritischen Philosophie' (1797—1804) als getreuen, wenn auch ziemlich sklavischen, Interpreten Kants erwies. — Von Berlin aus diskutierte der kenntnisreiche Kammergerichtsrat E. F. Klein mit ihm brieflich ethische und rechtsphilosophische Fragen, während der wackere Prediger Lüdeke, der Beichtvater der jungen Königin Luise, ihn durch besonders frische und freimütige Briefe erfreute, die er, zumal da sie auch allerlei Interessantes aus hohen Kreisen zu berichten wußten, gern seinen Mittagsgästen vorlas.

In Gießen trat ein gewisser Schaumann, in Erlangen die Theologen Ammon und Schneider, sowie der Privatdozent Goes neu für ihn ein. Sogar in dem katholischen Bonn verkündete Schillers Freund von der "Schrammei" her, der erst 24jährige Rechtsprofessor Bartholomäus Fischenich, eine rheinisch frohe und heitere Natur, begeistert das dort noch ganz neue Evangelium des Kritizismus mit gutem Erfolg; "denn diese Philosophie hat keine anderen Gegner zu fürchten als Vorurteile, die in jungen Köpfen doch nicht zu besorgen sind" (Schiller an Fischenich, 11. Februar 1793). Durch ihn könnte auch sein junger Landsmann Beethoven, von dem er Januar eine Komposition an Frau Lotte Schiller sandte, mit Kantischen Ideen bekannt gemacht worden sein, obwohl er Bonn freilich schon vor Fischenichs Rückkehr aus Jena verlassen hat1). Mit Bonn befinden wir uns schon im 'Katholischen Teutschland', aus dem unser Denker im Herbst 1793 von unbekannter Hand ein Blatt, betitelt 'Katholische Universitäten in Beziehung auf Kantische Philosophie' erhielt, das im Frühjahr 1796 durch einen anschaulichen brieflichen Bericht des getreuen Maternus Reuß und seines Freundes C. Stang (s. Buch III, Kap. 6) ergänzt wurde. Aus diesen und anderen von uns gesammelten Nachrichten ergibt sich folgendes Bild:

Ihren Höhepunkt erreichte die kantfreundliche Bewegung, dank den beiden Genannten und ihrem Kollegen Baur, in Würzburg. Als Friedrich Wilhelm II. mit dem Kronprinzen am 18. Juli 1792 die Stadt besuchte und von der Studentenschaft in feierlichem Wichs empfangen wurde, trugen die Bandeliere der philosophischen Fakultät in Latein die Aufschrift: "Königsberg in Preußen und Würzburg in Franken geeint durch die Philosophie." In seiner am 17. August d. J. verteidigten Dissertation erklärte Reuß: Nur in gewissen frommen Konventikeln wage man noch zu behaupten, dass die kritische Philosophie nachteilig für die Religion sei, dass die moderne Sittenverderbnis und — die französische Revolution von ihr herrührten. Und am 1. April 1796 schrieb er Kant: Nach wie vor lehre er, unterstützt von seinem Fürstbischof, theoretische wie praktische Philosophie nach Kants Grundsätzen; ebenso sein Kollege Andres die Ästhetik. Aber auch die Professoren der Theologie und der Rechtswissenschaft modelten fast sämtlich, wo nicht den Inhalt, so doch die Form ihres Vortrages nach kritischen Grundsätzen; sogar in Katechese und Predigt benutze man sie. Um Kantische Philosophie bei ihm zu hören, kämen viele Fremde nach Würzburg. Und nach Stang (an Kant, 2. Okt. 96) waren sogar Frauen und Mädchen "enthusiastisch" dafür eingenommen. "Hier in Würzburg kommt man in viele Frauenzimmergesellschaften, wo ... Ihr System stets das Lieblingsgespräch ausmacht." Zu den erst durch den Bamberger Professor Damm (S. 243), dann durch Reuß kantisch beeinflußten Theologen gehörte auch der feinsinnige spätere Weihbischof Zirkel, der 1793 "Predigten über die Pflichten der höheren und aufgeklärten Stände" im Sinne von Kants Sittenlehre veröffentlichte, die vielen Beifall auch im nördlichen Deutschland fanden. So kam es, dass er 1800 einen Ruf an die, offenbar in Berücksichtigung der neuen polnischen Landesteile, geplante katholisch-theologische Fakultät zu — Königsberg erhielt: ein katholischer Bischof als Kollege Kants! Doch lehnte Zirkel ab.

 

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1) Beethoven beabsichtigte schon damals (1793) Schillers 'Lied an die Freude' zu bearbeiten. "Ich erwarte etwas Vollkommenes," schreibt Fischenich an Schiller, "denn soviel ich ihn kenne, ist er ganz für das Große und Erhabene." Der junge Musiker hat die Prophezeiung wahr gemacht.


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