I. Wahrhaftigkeit


Ausgangspunkt und Voraussetzung alles anderen ist seine tiefgewurzelte Wahrhaftigkeit. Wahrheit ist ihm die "Grundvollkommenheit", die "erste Bedingung" (Ak.-Ausg. XV, 671 ).1) Unaufrichtigkeit gilt ihm als der schlimmste Fehler eines Gelehrten und veranlaßt ihn zu aufgebrachten Zornesworten (gegen Eberhard). Er selbst war im persönlichen Verkehr von einer fast naiven Offenherzigkeit. "Kant ist bei aller seiner Lebhaftigkeit ein treuherziger, unschuldiger Mann" (Hamann). "Seine Gewohnheit ist, alles, was man ihm sagt, ohne ausdrücklich Stillschweigen zu verlangen, wieder zu erzählen" (Pörschke zu Abegg). Einen wichtigen Brief Mendelssohns gibt er seinem philosophischen Gegner unbedenklich zu lesen, bloß gegen das Versprechen, keinen Mißbrauch damit zu treiben; ja er teilt ihn sogar dem verschlossenen und mißtrauischen Hippel mit, "der sich über Kants Vertrauen wunderte" (Hamann an Jacobi, 5. Nov. 85). In dieser Hinsicht war er, wie oft die großen Genies, bei aller Weltkenntnis und Weltklugheit doch beinahe wie ein Kind, wie denn die Kindlichkeit seines Wesens, die sich auch in seinem Blicke ausprägte, von neuen wie von langjährigen Bekannten (Graf Purgstall, Pörschke, Scheffner) in gleicher Weise hervorgehoben worden ist. Damit hängt auch die vollendete Reinheit seines Denkens und seiner Rede zusammen, die ihn die Dinge, z. B. auch die geschlechtlichen, offen bei ihrem Namen nennen läßt, was gerade seine innere Keuschheit beweist; nach dem Muster der Antike: "Keuschheit in den Ohren; die Alten nicht", wie ein Wort des Nachlasses sagt. Seinem Wahrheitssinn entsprang die Abneigung gegen alles Pathos und alle Rhetorik, seiner Aufrichtigkeit die Gegnerschaft gegen alle geheimen Gesellschaften.

Dasselbe Wahrheitsstreben nun, das ihn im persönlichen Verkehr "Vorurteile, von den er sich leicht begeistern läßt" (!), zu widerrufen und abzulegen nicht scheuen (Hamann), das ihn stets über die Person die Sache stellen ließ, begleitet auch seine gesamte philosophische Arbeit von Anfang bis zu Ende. "Das oberste Prinzip der Buchmacherei, namentlich aber in der Philosophie ist Ehrlichkeit", sagt noch sein Nachlaßwerk: "keine Schwächen der Beweisgründe zu verhehlen und keine Meinungen, die temporär sind, für Gewißheit auszugeben". Er konnte mit vollem Rechte schreiben: "Unsere Methode befördert ... die Aufrichtigkeit." Daher seine Abneigung gegen den Hochmut des metaphysischen Dogmatismus, sein zeitweiser Übergang zum Skeptizismus oder vielmehr zur "skeptischen Methode", die "auf Gewißheit geht", sein notwendiges Weitergehen zum Kritizismus, der die reinliche Scheidung zwischen Wissen und Glauben trifft und den "sicheren Weg der Wissenschaft" einschlägt.

Denn, wer von Grund aus wahrhaft ist, der ruht nicht eher, als bis er den Dingen auf den Grand gekommen ist, volle Klarheit des Erkennens erreicht hat. Darum, vom Beginne von Kants philosophischer Laufbahn an, sein stetes Dringen auf Klarheit, auf "Deutlichkeit der Begriffe". Deshalb auch, bei aller teilweisen Verschnörkelung des Stils (Buch III, Kap. 9), die helle Durchsichtigkeit der Gedanken, die einen Goethe dem jungen Schopenhauer bekennen ließ: "Wenn ich eine Seite im Kant lese, ist mir zu Mute, als träte ich in ein helles Zimmer." Ja eben daher, aus dem Drang nach unbedingter Wahrheit, nach strengster Gewissenhaftigkeit auch im Ausdruck, stammt jene den Leser anfänglich oft abschreckende Umständlichkeit der kritischen Sprache, die seiner Unterhaltung durchaus nicht eigen war. Als ein unumgängliches Erfordernis echter Wissenseihaft gilt ihm eben die Gründlichkeit, um derentwillen er selbst seinen Hauptgegner, Christian Wolff, dessen Philosophie zu stürzen seine erste Aufgabe war, an einer wichtigen Stelle (zweite Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft) preist als den "Urheber des bisher noch nicht erloschenen Geistes der Gründlichkeit in Deutschland". Und darum andererseits seine gründliche Abneigung, philosophische Fragen auf "geniemäßige Art" zu behandeln, auf welche "Ehre" er gern Verzicht tue. "Einsichten sind bloß die Wirkung der anhaltenden Arbeit und Geduld."

 

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1) Wir beziehen uns im folgenden, um nicht Bekanntes zu wiederholen, meist auf weiteren Kreisen noch unbekannte, zum Teil überhaupt erst in neuerer Zeit aus seinem Nachlaß veröffentlichte Reflexionen, die der Leser besonders in Bd. XV der Akademie-Ausgabe findet. Wir verzichten in der Folge auf ermüdende Stellen-Zitate.


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