In Holland und England


Auch in Holland fand der Kritizismus im Laufe der 90er Jahre Anhänger. Der Gelehrte Paulus von Hemert in Amsterdam gab zuerst 1792 einen Abriß von Kants Philosophie, trat seit 1796 lebhafter dafür ein und begründete 1798 im Verein mit anderen ein "Kritisches Magazin" und eine "Kritische Gesellschaft" zur Förderung des Kantianismus. Der Kurator der Universität Leiden, Hieronymus van Bosch, besang in einem lateinischen Gedicht von 328 Hexametern die kritische Ethik (vgl. seinen Brief an Kant vom 6. Juli 1799); ein Baron van Utenhove aus Utrecht schickte ihm, dem premier philosophe de l'Univers, dem Verfasser der "unsterblichen Theorie des Himmels", seine Übersetzung von Lamberts Kosmologischen Briefen (an Kant, 29. Juni 1801). Und ein gewisser Glover aus Driel bei Arnhem berichtet ihm am 16. Februar 1802 über die zunehmende Zahl von Verehrern, die seine Philosophie "auch in Bataviens feuchtem Himmelsstrich" finde — und bittet um seine Erlaubnis, die 'Metaphysischen Anfangsgründe' in "niederdeutsches" Gewand kleiden zu dürfen. Ein J. Kinker endlich schrieb eine Erläuterung zur Kritik der reinen Vernunft, die 1801 ins Französische übersetzt wurde.

Ungünstiger war der Boden für Kants Lehre in England. Dort fand der junge F. A. Nitzsch, ein Schüler von Kant und Kraus, der 1793 als Privatsekretär eines reichen englischen Gelehrten nach London gekommen war, die Philosophie, abgesehen von ihrem "empirischen" Teil und der Mathematik, "herzlich schlecht". Selbst die beliebtesten philosophischen Schriftsteller gäben dort gewöhnlich ein zusammengestoppeltes Gemisch verschiedenartigster Systeme: von Materialismus, Idealismus, dogmatischem Skeptizismus und anderem; von Kants Werken kenne man nicht einmal die Titel, geschweige denn den Inhalt. Durch diese, bekanntlich auch heute noch in England gewöhnliche, insulare Unkenntnis und Interesselosigkeit gegenüber der theoretischen Philosophie ließ sich der junge Mann gleichwohl nicht abhalten, zu Vorlesungen über Kants Philosophie durch einen gedruckten Prospekt einzuladen, wobei er, um Zuhörer zu bekommen, die drei ersten unentgeltlich zu halten und außerdem freie Aussprache versprach. So zog die erste Vorlesung denn auch eine Menge Leute: ältere Lords und junge Gelehrte, Geistliche und geputzte Damen an, es erfolgte eine lebhafte Disputation, und das Kolleg kam glücklich zustande; ein gleiches im folgenden Winter. — In Halle übersetzte der durch Jakob und Beck in den Kritizismus eingeführte Schotte Richardson verschiedene Abhandlungen Kants ins Englische, um seine Landsleute, "die noch immer in der Empirie ersoffen sind", zum Studium der "einzig wohl gegründeten" Philosophie zu bringen (an Kant, 21. Juni 98). Ebenso in London ein früherer Zuhörer Kants Dr. Anton Willich, der sie ihm als "geringes Denkmal" seiner Hochachtung und Dankbarkeit am 9. September 1798 übersendet.

Auch in einer in Philadelphia (Nordamerika) 1803 herausgekommenen Enzyklopädie der Wissenschaften und Künste erhielt die Kantische Philosophie, an der "die Philosophen Deutschlands ebenso eifrig hängen wie die Physiker an Newton, die Scholastiker an Aristoteles", einen besonderen Artikel.

Von der Schweiz, deren wissenschaftliches Leben damals wohl noch sehr wenig entwickelt war, können wir nichts Bestimmtes berichten. Denn Pestalozzi, der große Pädagoge, hat zwar tiefe innere Berührungspunkte mit Kant, aber er hatte sie ohne ihn gefunden; er hatte, nach einem Worte Erhards, "Kants Geist ohne seine Sprache".


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