Der Besuch Lupins


Im Jahre 1794 — das genauere Datum wird nicht genannt — fuhr der 23jährige Bergbaubeflissene Friedrich von Lupin einem alten Patriziergeschlechte des schwäbischen Reichsstädtchens Memmingen entstammend, mit Empfehlungsbriefen der Göttinger Gelehrten Blumenbach, Kästner, Heyne und Lichtenberg sowie des Geologen Werner versehen, vor Kants Wohnung vor, der ihn im Schlafrock empfing. Das nähere Interesse des Philosophen erregte er erst durch das eifrige "Auskramen" seiner dem "Weisen, der nie in eine Grube hinab- noch auf einen Berg hinaufgestiegen war", vielfach neuen mineralogischen Kenntnisse, und genoß so schließlich den "Triumph", von dem "König in Königsberg zur Tafel gezogen", mit anderen Worten für den folgenden Tag zum Mittagsessen eingeladen zu werden. Wir geben nun dem Gaste selbst das Wort.

"Als ich mich des andern Tages zur gesetzten Stunde bei dem verheißenen Ehrenmahle einfand, traf ich den Weltweisen sorgfältig angezogen und gut aufgeputzt; auch empfing er mich im Tone des gastgebenden Hausherrn mit einer aus dem Inneren hervorleuchtenden, ihm sehr wohl anstehenden stolzen Haltung. Er schien ein anderer als gestern im Schlafrocke zu sein; an Leib und Seele weniger trocken, wenn er gleich in dem Anzüge noch abgemagerter und dürrer aussah. Aber seine hohe, heitere Stirn und seine klaren Augen waren dieselben und krönten und belebten den kleinen Mann, über den ich — freilich nur wie ein Schatten hinausragte. Wir hatten uns kaum zu Tische gesetzt und ich mich mannhaft zusammengenommen, soviel es sein konnte, ein kleiner Geist zu sein, so bemerkte ich bald, dass große Geister nicht bloß von der Luft leben. Er aß nicht nur mit Appetit, sondern mit Sinnlichkeit" (Lupin wußte wohl nicht, dass der Philosoph nach seiner Gewohnheit seit 24 Stunden nichts gegessen hatte). "Der untere Teil seines Gesichts, die ganze Peripherie der Kinnbacken drückte die Wollust des Genusses auf eine unverkennbare Weise aus; ja sogar einige der geistreichen Blicke fixierten sich so bestimmt auf diesen oder jenen Imbiß, dass er in diesem Augenblicke rein abgeschlossen ein Mann der Tafel war. Er ließ sich seinen guten, alten Wein auf dieselbe Weise schmecken... Nachdem Kant der Natur den Tribut bezahlt und zuvor nicht viel gesprochen hatte, ward er sehr gesprächig. Ich habe wenige Männer in diesem Alter gesehen, die noch so munter und so beweglich gewesen wären wie er, und doch war er dabei trocken in allem, was er sprach; so fein, so witzig auch die Bemerkungen waren, die er selbst über das Gleichgültigste ausstreute, so trocken waren sie angebracht; einige Anekdoten kamen dazwischen wie gerufen, wie für den Augenblick hervorgesprungen, man glaubte, das Ernsthafteste werde nun kommen, und man konnte sich des Lachens nicht enthalten. Er sprach nun in einem fort auch mir zu, es mir besser schmecken zu lassen; besonders bei einem großen Seefische, wobei er des reichen Juden gedachte, der zu seinem Gaste sagte: "Essen Sie, essen Sie, es ist ein seltener Fisch, bezahlt und nicht gestohlen." Als ihn dann der junge Gast mit dem, wie er meinte, psychologisch interessanten Fall eines mit einer fixen Idee behafteten Handwerksburschen, den er Tags zuvor im Irrenhause gesehen, unterhalten wollte, sagte Kant ablenkend: "Lassen wir den unglücklichen Gesellen, und sind wir gescheit!"

"Das war gerade ein Zug des großen Mannes", so schließt Iyupin seine Schilderung ab, "dass sein tiefes Denken der heiteren Geselligkeit keinen Abbruch tat; er war lauter reine Vernunft und tiefer Verstand, aber damit weder sich selbst noch anderen lästig. Um fröhlich in seiner Gesellschaft zu sein, durfte man ihn nur ansehen und ihm zuhören; um tugendhaft zu sein, ihm nicht bloß auch seine Worte glauben, nur ihm nachfolgen und mit ihm denken, denn kaum hat wohl ein Mensch sittlicher und froher gelebt als er... Als ich des anderen Tages von ihm Abschied nahm, war es mir, als ob er mich zur Tugend einweihen wollte. Hier offenbarte sich in wenigen Worten der kategorische Imperativ seines moralischen Sinnes und ein ernster Eifer gegen allen und jeden Eudämonismus. Rein und in sich abgeschlossen, reichte er mir zum Abschiede freundlich die Hand."


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