Vorgeschichte der Religionsschrift.
'Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft'


Auf die Kunde hiervon erbat sich Kant, da ja "der Urteilsspruch Ihrer drei Glaubensrichter unwiderruflich zu sein scheint", das Manuskript baldmöglichst auf seine Kosten zurück; er beabsichtige, zumal da die Abhandlung ohne die mit ihr zusammenhängende Fortsetzung doch "eine befremdliche Figur" in der Monatsschrift machen müsse, einen anderen Gebrauch davon zu machen, "und zwar bald". Während nun Biester sich sofort im folgenden (August-) Hefte seiner Zeitschrift in einem Artikel über 'Unbekannte Gesetze' — die Forderung des Gehorsams gegen solche sei noch wunderbarer als gegen unbekannte Ordensobere — wider das neueste Vorgehen der Glaubensrichter zur Wehr setzte, beschritt der bedächtige Philosoph einen umständlicheren Weg. Er beschloß zunächst die von ihm schon fertig gestellten drei Abhandlungen, die mit jener ersten vom radikalen Bösen zusammen als 'Philosophische Religionslehre' ein Ganzes ausmachen sollten, um eine grundsätzliche Entscheidung herbeizuführen und zugleich "alle Gerechtigkeit zu erfüllen", d. h. doch wohl auch gegen alle unliebsamen Weiterungen geschützt zu sein, einer theologischen Fakultät zur Zensur einzureichen. Er hatte anfangs, um der heimischen keine Ungelegenheiten zu bereiten, zu diesem Zweck die Göttinger, deren Mitglied Stäudlin er sich geneigt wußte, ins Auge gefaßt, ist aber aus einem unbekannten Grunde davon abgekommen. Dann die Hallenser, deren Dekan J. L. Schulze jedoch kurz vorher Fichtes 'Kritik aller Offenbarung' ebenfalls die Druckerlaubnis versagt hatte. So wandte er sich denn doch, und zwar bereits Ende August d. J., an die theologische Fakultät seiner Vaterstadt, indes ausdrücklich, wie es in dem noch erhaltenen Entwurf seines Schreibens heißt, "nicht sowohl zur Zensur", als vielmehr "zur Beurteilung", ob sie selbst "sich die Zensur derselben anmaße" oder sie der Zensur derjenigen Fakultät, in deren Bereich sie nach ihrem Titel (s. unten) gehöre, d. h. der philosophischen, überweise. Seiner Meinung nach greife die Schrift nicht in die biblische Theologie ein, da die Aufgabe des Philosophen eine andere als die des Theologen sei und es dem ersteren gestattet sein müsse, "über alles, was Objekt der menschlichen Meinung sein mag, zu vernünfteln". Die Entscheidung fiel, wie er erwartet, in seinem Sinne aus, d. h. das Buch wurde der Gerechtsame der philosophischen Fakultät zugewiesen. Da es Kants Taktgefühl selbstverständlich widerstrebte, sich an die eigene Fakultät, noch dazu an seinen eigenen Schüler Chr. J. Kraus (der gerade Winter 1792/93 das Dekanat führte) zu wenden, so suchte er nunmehr die Druckerlaubnis bei der philosophischen Fakultät zu Jena nach, wo ohnehin schon die erste Abhandlung gedruckt worden war. Wie erst in neuerer Zeit durch Emil Arnoldt festgestellt worden ist, findet sich denn auch auf mehreren Bogen der zum größten Teil noch vorhandenen Kantischen Handschrift das Vidi des Dekans der dortigen Philosophischen Fakultät, Professor Justus Christian Hennings. Kant beeilte nunmehr den Druck, so dass ihm zu einer nochmaligen Durchsicht wenig Zeit blieb. Am 21. Dezember konnte er bereits Reinhold das Erscheinen des Buchs, ohne ihm den Titel schon zu verraten, für die nächste Ostermesse ankündigen; am 28. Februar 1793 war es zur Hälfte gedruckt, wie Schiller, der die fertigen Druckbogen mit Begeisterung las, Freund Körner meldet; und pünktlich zu Beginn der Ostermesse erfolgte seine Veröffentlichung unter dem veränderten Titel:*) 'Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft' im Verlage von Friedrich Nicolovius zu Königsberg.

So scheint die religionsphilosophische Hauptschrift unseres Philosophen fast zufälligen Umständen ihre Entstehung zu verdanken. Dem widerspricht anscheinend der Brief, mit dem der Philosoph das fertige Buch am 4. Mai 1793 an Stäudlin nach Göttingen sendet. Danach hätte er schon "seit geraumer Zeit" einen "Plan" der "ihm obliegenden Bearbeitung des Feldes der reinen Philosophie" entworfen, der auf die Auflösung von vier "Aufgaben" ging: 1. Was kann ich wissen? (Metaphysik). 2. Was soll ich tun? (Moral). 3. Was darf ich hoffen? (Religion). 4. Was ist der Mensch? (Anthropologie). Mit der beifolgenden Schrift habe er nun "die dritte Abteilung seines Planes zu vollführen gesucht". Ein solcher, allerdings dem populären Verstande sehr einleuchtender "Plan" entspricht aber höchstens gelegentlichen Äußerungen in seinen Vorlesungen, dagegen nicht der festen Gliederung des in seinen Hauptwerken niedergelegten kritischen Systems; auch fehlen in ihm Naturteleologie und Kunst, kommt die sonst nirgends erwähnte Anthropologie hinzu und wird die Kritik als 'Metaphysik' bezeichnet; auch findet sich in dem Buche selbst keine Anspielung darauf. Jedenfalls bildet die 'Religion innerhalb usw.' nicht in der nämlichen Weise ein Glied seines philosophischen Systems, wie die in seinen drei 'Kritiken' enthaltene Begründung der Wissenschaft, der Ethik und der Kunst. Sie gibt keine Feststellung oder Begründung des religiösen Prinzips, ja nicht einmal eine Auseinandersetzung mit den Religionen überhaupt, sondern nur mit einer derselben, dem Christentum, wie denn der Brief an Stäudlin fortfährt: "... in welcher Arbeit mich Gewissenhaftigkeit und wahre Hochachtung für die christliche Religion, dabei auch der Grundsatz einer geziemenden Freimütigkeit geleitet hat, nichts zu verheimlichen, sondern, wie ich die mögliche Vereinigung der letzteren mit der reinsten praktischen Vernunft einzusehen glaube, offen darzulegen."

Ja, es ist im Grunde genommen sogar etwas noch Spezielleres: die ihm zum Bedürfnis gewordene grundsätzliche Auseinandersetzung mit derjenigen Form des Christentums, in der er aufgewacbsen war, in deren Dienst seine theologischen Zuhörer zu treten bestimmt waren, die ihn rings umgab, und die, trotz des freigeistigen Friedrichs II. selbst unter ihm und erst recht natürlich unter seinem Nachfolger die Macht besaß: der lutherischen Landeskirche. Es ist sein persönliches Werk in ganz anderem Sinne, als die Kritiken. Deshalb konnte er zunächst daran denken, sie, ähnlich wie später seine politischen Gedanken, lediglich in einer Zeitschrift der deutschen Gebildeten vorzulegen. Ebendeshalb hängt sie auch weit enger mit seiner persönlichen religiösen Stellung und Entwicklung zusammen, die wir nunmehr genauer kennen lernen wollen. 

 

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*) Der anfänglich gewählte Titel 'Philosophische Religionslehre' findet sich in der 1. Auflage noch in den Überschriften der vier Hauptabschnitte wie an den Druckernoten am Fuß der Bogenanfänge. Auch die Vorrede zur 1. Auflage will das Buch als einen Leitfaden der "reinen philosophischen Religionslehre" betrachtet wissen. Erst die zweite Auflage (1794) äußert sich über den veränderten Titel.


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