Briefe an Lagarde und Stäudlin.
Wendung zur Politik


Übrigens hoffte er von dem bevorstehenden Frieden mit der französischen Republik eine günstige Wendung in liberalem Sinne auch für die innere preußische Politik und damit für seine eigene Sache. Das kommt in zwei Briefen zum Ausdruck, die er in den ersten Monaten nach dem "Blitzschlag aus den Gewölken der Hofluft" geschrieben hat, die deshalb auch für die Kennzeichnung seiner Stimmung in jener Zeit überhaupt von Wichtigkeit sind. Der erste, vom 24. November 1794, an den Verleger seiner Kritik der Urteilskraft Lagarde in Berlin gerichtet, bezeichnet diesem als einen der Gründe, weshalb er ihm gegenwärtig kein Buch in Verlag geben könne: "dass, da mein Thema eigentlich Metaphysik in der weitesten Bedeutung ist und als solche Theologie, Moral (mit ihr also Religion), imgleichen Naturrecht (und mit ihm Staats- und Völkerrecht), obzwar nur nach dem, was bloß die Vernunft von ihnen zu sagen hat, befaßt, auf welcher aber jetzt die Hand der Zensur schwer liegt, man nicht sicher ist, ob nicht die ganze Arbeit, die man in einem dieser Fächer übernehmen möchte, durch einen Strich des Zensors vereitelt werden dürfte." Aber wenn "der Friede, welcher nahe zu sein scheint, eingetreten sein wird", so würden hoffentlich "bestimmtere Verordnungen die Schranken, in denen sich der Autor zu halten hat, genauer vorzeichnen: so, dass er in dem, was ihm noch frei gelassen wird, sich für gesichert halten kann". Bis dahin möge Lagarde sich gedulden; er (Kant) wolle indes seine Arbeiten "in guter Erwartung fortsetzen".*)

Noch wichtiger ist der zweite, am 4. Dezember an den Theologie-Professor Stäudlin in Göttingen abgesandte Brief. Stäudlin hatte ihn zur Mitarbeit an einem neu zu gründenden religionswissenschaftlichem Journal mit "uneingeschränktester Preßfreiheit" eingeladen. Diesen Antrag bezeichnet Kant als ihm erwünscht, weil das Ansehen der unter dem "orthodoxen" Georg III., dem Freunde des "ebenso rechtgläubigen Friedr. Wilh. II.", stehenden Universität Göttingen ihm vielleicht "zum Schilde dienen könnte, die Verunglimpfungen der Hyperorthodoxen (welche mit Gefahr verbunden sind) unseres Orts zurückhalten". Er habe eine Arbeit über den prinzipiellen Streit der theologischen mit der philosophischen Fakultät bereits seit einiger Zeit fertig, die eigentlich mehr politisch als theologisch sei. Da sie jedoch eine ganze Anzahl Beispiele anführe, welche "die jetzt unsres Orts in großer Macht stehende Zensur ... auf sich deuten und verschreien" möchte, so wolle er sie in der Hoffnung, dass ein naher Frieden vielleicht auch auf dieser Seite mehr Freiheit unschuldiger Urteile herbeiführen dürfte, vorläufig noch zurückhalten. Übrigens könnten dem "Übel eines trübseligen Zwangsglaubens", "vielleicht besser als andere mit ihren Demonstrationen", Leute wie Stäudlins Kollege Lichtenberg "durch seinen hellen Kopf, seine rechtschaffene Denkungsart und unübertreffbare Laune" entgegenwirken. Gut, dass die "vorhin bei uns so geschätzte", jetzt aber aus Preußen geflohene Denkfreiheit bei so wackeren Männern wie den Göttinger Professoren Schutz gefunden habe!

Kant bezeichnet es bei seiner Veröffentlichung des kgl. Reskripts (1798) als "merkwürdig", dass dasselbe, das er selbst nur seinem "vertrautesten Freunde" (A. Warda vermutet darunter den getreuen Helfer seiner letzten Jahre Wasianski, der ihm jedoch erst später nahe trat) bekannt gab, nicht früher öffentlich bekannt geworden sei. Nun, die Wöllnersche Regierung scheute sich wohl doch, mit ihrem Vorgehen gegen den ersten deutschen Philosophen vor alle Welt hinauszutreten, und begnügte sich mit der vielleicht bis zu dem Grade gar nicht erhofften Wirkung desselben. Im übrigen ging man gleichzeitig gegen seine Anhänger und Kollegen an der Königsberger Universität beinah noch schroffer vor. Sämtliche theologische und philosophische Dozenten der Albertina mußten sich, wie Rink (selbst einer von ihnen) bezeugt, handschriftlich verpflichten, weder über Kants 'Religion' Vorlesungen zu halten, noch überhaupt etwas vorzutragen, "was damals im preußischen Staate für Irrglauben galt".

Noch bleibt die Frage zu beantworten: ob Kant die freiwillig von ihm versprochene "gänzliche Enthaltung" von allen öffentlichen Äußerungen wirklich durchgeführt hat? Schon Otto Schöndörffer hat (Altpreuß. Monatsschr. 38, S. 134) darauf hingewiesen, dass ihn der Gang seiner alljährlichen Vorlesung über Metaphysik notwendigerweise auf religiöse Fragen führte, und dass er sie in der Tat auch im Wintersemester 1794/95 berührt hat, wie ein von Arnoldt behandeltes Kollegheft beweist.**) Dazu kommt, dass er auch in der zu Anfang 1797 veröffentlichten 'Rechtslehre', ebenso wie in der im Hochsommer des gleichen Jahres erschienenen 'Tugendlehre', also in beiden Fällen vor dem am 10. November d. J. erfolgten Tode Friedrich Wilhelms II., seinen sittlich-religiösen Ansichten ziemlich ungenierten Ausdruck gegeben hat. Die Rechtslehre verbreitet sich, wenn auch mit größerer Schärfe erst in der zweiten Auflage von 1798, über das Verhältnis von Staat und Kirche, die von der Religion als "innerer Gesinnung" scharf unterschieden wird; die Tugendlehre setzt ihren "moralischen" ausdrücklich dem Religions-Katechismus entgegen und erörtert in ihrem "Beschluß" das Thema, dass die Religionslehre außerhalb der Grenzen der reinen Moralphilosophie liege.

Schließlich und vor allem ist eins nicht zu vergessen: hat Kant auch auf religionsphilosophischem Gebiet eine Zeitlang die Waffen niedergelegt, weil er seine religiösen Anschauungen nicht verleugnen wollte, offenen Widerstand aber für ebenso ungesetzlich wie zwecklos hielt, so setzte er doch den Kampf für seine Überzeugung auf einem anderen Felde fort, und zwar auf eben dem, das ihm das Vorgehen der Staatsbehörde gegen ihn nahelegte: dem politischen. Um das zu verstehen, müssen wir seine politischen Ansichten im Zusammenhang kennen lernen.

 

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*) Ähnlich schreibt er im folgenden Jahr an den Erlanger Theologen Seiler: In der Hoffnung, dass sich die Umstände änderten, strebe er seine eigenen Begriffe (über Religion) immer mehr zu klären (an Seiler, 14. August 95).

**) Anscheinend auch in seinem Sommerkolleg über Logik. Denn in einer 1913 von W. Jerusalem (Wien) aufgefundenen Vorlesungsnachschrift findet sich der Passus: "Es ist demnach Unrecht, im Staate zu verbieten, dass Menschen Bücher schreiben und etwa z. B. über Religionssachen urteilen sollen. Denn da wird ihnen das einzige Mittel genommen, das ihnen die Natur gegeben, nämlich ihr Urteil an fremder Vernunft zu prüfen. Die Freiheit, im Stillen zu denken, geben die Leute, die so despotisch tyrannisieren." Denken kann ich immer, was ich will; aber da der "logische Egoismus" sich dem "Kriterium" der "allgemeinen Vernunft" unterwerfen muß, so "habe ich auch ein Recht, meine Gedanken öffentlich vorzutragen" (vgl. Jerusalems Mitteilungen Kantstudien XVIII, S. 538—542. Die Sperrungen sind von mir).


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