Der Besuch Purgstalls


Kürzer ist der Bericht des jungen steirischen Grafen Wenzel Gottfried von Purgstall, der, mit Empfehlungen Reinholds (Kiel) versehen, im Frühjahr 1795 seine "Wallfahrt" nach Königsberg antrat. Bei seinem am 18. April — schon ½8 Uhr vormittags! — stattfindenden Antrittsbesuch empfing ihn der "Patriarch", in gelbem Schlafrock mit rotseidener "polnischer" Binde, sehr freundlich und natürlich, "durchflog Reinholds Brief, sprach sehr viel — schwätzte beinah, meist von Kleinigkeiten, scherzte mit sehr viel Witz und sagte einige ganz originelle Bemerkungen über Schwärmerei und besonders über die gelehrten Damen und ihre Krankheiten". Von da ab wurde Purgstall jeden vierten Tag zu einem "patriarchalischen Mahle" bei Kant eingeladen. Einmal schreibt er um 4¼ Uhr "nach Tische": "Soeben komme ich vom — Patriarchen, spreche mit ihm nie von theoretischer Philosophie, sondern von anderen Dingen, auch kaum von Reinhold, aber viel von Erhard." Er "scheint abstrakte Gespräche nicht zu lieben". Ein andermal: Kant sei trotz seiner hohen Moralität und Humanität in manchem doch ein echter Professor. "So kann er z. B. nicht mehr reden hören, wird ungeduldig, wenigstens auf einen Augenblick, wenn Jemand etwas besser zu wissen glaubt, spricht unaufhörlich allein und weiß alles über alle Länder, Orte, Weltteile usw., z. B. er wußte besser als ich, was für Federvieh wir (sc. in Steiermark) haben, wie das Land aussieht, auf welcher Stufe der Aufklärung der katholische Geistliche steht usw. Über alle diese Dinge widersprach er mir." Außerdem ist noch eine wertvolle Charakterschilderung Kants als Menschen und Philosophen von desselben Purgstall Hand erhalten (abgedruckt Altpreuß. Monatsschrift XVI, S. 612): "Er ist gewiß ehrlich, seine Seele ist rein, er ist kindlich und hält sich selbst für keinen großen Mann. Dies sagen auch alle, die ihn genau kennen. Er hat sich also über diesen Punkt eine in ihrer Art einzige Unschuld — es gibt keinen besseren Ausdruck dafür — erhalten. Er hat sehr viel Menschenkenntnis, hat die Welt studiert und weiß über viele andere Dinge, die nicht in sein Fach gehören, vortrefflich zu reden. Er allein ist ein wahrer spekulativer Philosoph, und man muß auch nur ein solches spekulatives — im wahren Sinne des Wortes, nicht ein spaltender Kopf — Genie sein, wenn man seiner Menschlichkeit und Sittlichkeit unbeschadet sich ins Gebiet der spekulativen Philosophie als Selbsterfinder, nicht als bloß Leser und Versteher, wagen will ... Es wird nur alle Jahrtausende ein Kant geboren, und die Natur hat dies sehr weise sich eingerichtet, denn es ist der Menschheit auch nur alle Jahrtausende ein spekulativer Philosoph nötig."


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