Begeisterung für die französische Revolution.
Gegen England


Und nun sollte er wider Erwarten die große politische Umwälzung erleben, die seine Hoffnungen zu erfüllen, seine Ideen zu verwirklichen schien: das Weltereignis der französischen Revolution. Man kann sich denken, mit welcher Begeisterung er sie begrüßte. Für politische Nachrichten hatte er sich schon immer interessiert und durch seine Verbindung mit der "guten" Gesellschaft seiner Vaterstadt Gelegenheit gesucht und gefunden, solche von Wert zu bekommen; so berichtet ihm z. B. am 18. Januar 1770 General von Lossow brieflich allerlei interessante Neuigkeiten (von der wichtigen Geheimaudienz eines Diplomaten beim König, vom bevorstehenden Bruch zwischen Frankreich und "Engelland" u. a.), ähnlich später Graf Keyserling, in dessen Palais wie in dem Hause des Ministers von Braxein er gewiß oft weitere Gelegenheit dazu hatte. Jetzt aber erfüllte ihn ein wahrer "Heißhunger" nach den neuen Zeitungen (Borowski). Ja, in besonders kritischen Zeitläuften wäre er am liebsten "der Post Meilen weit entgegengegangen", und "man konnte ihn mit nichts mehr erfreuen als mit einer frühen authentischen Privatnachricht" (Jachmann). Neben den Königsberger Lokalblättern, insbesondere der schon damals bestehenden Hartungschen Zeitung, scheint er auch eine Hamburger Zeitung gehalten zu haben (Wasianski); und noch 1798 zeigte er sich "so neugierig auf politische Neuigkeiten, dass Nicolovius ihm den Probebogen der Berliner Zeitung, den er auf der Post etwas früher bekommt, zusenden muß. Und wenn er nicht selbst lesen kann, so fragt er mich, oft hintennach durch ein Billet, ich sollte melden, ob nichts Merkwürdiges vorgefallen sei" (Brahl zu Abegg mündlich, vgl. des letzteren Tagebuch, S. 169). Er fand, wie er am 12. Juni 1798 Jachmann und Abegg erklärte, überhaupt "keine Geschichte lehrreicher, als die ich täglich in den Zeitungen lese. Hier kann ich sehen, wie alles kommt, verbreitet wird, sich entwickelt". Wichtige politische Nachrichten, z. B. über Napoleons italienischen Feldzug, suchte er sich aus privater Quelle einige Wochen früher zu beschaffen. Die Hartungsche Zeitung hielt er noch in seinen letzten Lebensjahren. Ja, noch der 78 jährige beschäftigte sich, nach einer Notiz in der Handschrift seines Nachgelassenen Werks zu schließen (Altpr. Mon. XXI, 404), mit den gleichzeitigen Verhandlungen des Rastatter Kongresses über die Säkularisation der geistlichen Stifter. Ihr Inhalt war dann "sein angenehmstes Tischgespräch" (Borowski), das er "darüber in allen Gesellschaften mit gleicher Lebhaftigkeit führte" (Jachmann). Dabei verhielt er sich skeptisch gegen Nachrichten, denen Tag und Ort fehlte, zeigte dagegen außerordentlichen Scharfblick in der Beurteilung der Tatsachen wie der handelnden Personen, sogar der militärischen Operationen, und sagte oft "mit wahrhaft prophetischem Geiste" Begebenheiten voraus, "an welche die mitwirkenden Personen vielleicht selbst noch nicht dachten" (Jachmann, 129).

So hatte er insbesondere, was seine ältesten Biographen hervorheben, den stärksten Hemmschuh gegen die Freiheitsbestrebungen des französischen Volkes und damit indirekt auch der übrigen Nationen Europas in der schroff antirevolutionären Politik Englands erkannt: Englands, dessen Dichter (Pope, Milton, Butler), Romanschriftsteller (Fielding, Swift), Philosophen (Locke, Shaftesbury, Hume, Hutcheson) er doch so hochschätzte, ja dessen Staatsverfassung er einst — wie Borowski meint, sogar "bis dahin immer mit Enthusiasmus" — gepriesen hatte. Durch seine auswärtige Politik aber schien ihm Pitt, Großbritanniens leitender Minister "nicht sowohl Freiheit und Kultur, als Sklaverei und Barbarei fördern zu wollen".

Vielleicht hat er dabei auch an Englands Kolonialpolitik gedacht. Zwar ist der im 'Ewigen Frieden' (1795) erhobene Vorwurf räuberischer Kolonialpolitik gegen alle Völker gerichtet, denen der Besuch fremder Länder mit deren Eroberung "für einerlei gilt", und die "die Einwohner für nichts rechnen". Aber es ist doch offenbar auf England in erster Linie gemünzt, wenn er dann fortfährt: "In Ostindien brachten sie unter dem Vorwande bloß beabsichtigter Handelsniederlagen fremde Kriegsvölker hinein, mit ihnen aber Unterdrückung der Eingeborenen, Aufwiegelung der verschiedenen Staaten desselben zu weit ausgebreiteten Kriegen, Hungersnot, Aufruhr, Treulosigkeit, und wie die Litanei aller Übel, die das menschliche Geschlecht drücken, weiter lauten mag". Und derartige Gewalttätigkeiten, einschließlich der "allergrausamsten und ausgedachtesten" Sklaverei, ließen sich "Mächte" zuschulden kommen (vielleicht hat er dabei, außer an England, auch an das durch Multatulis 'Max Havelaar' noch in unserer Zeit an den Pranger gestellte Holland gedacht), "die von der Frömmigkeit viel Werks machen und, indem sie Unrecht wie Wasser trinken, sich in der Rechtgläubigkeit für Auserwählte gehalten wissen wollen." Ein aus 1797/98 stammendes Loses Blatt des Nachlasses faßt sein Gesamturteil über Volk und Staat von England in die bezeichnenden Worte zusammen: "Die englische Nation (gens), als Volk (populus) betrachtet, ist das schätzbarste Ganze von Menschen, im Verhältnis gegeneinander betrachtet. Aber als Staat gegen andere Staaten das Verderblichste, Herrschsüchtigste und Kriegserregendste unter allen" (XV, Nr. 1366).

Deshalb begleitete er auch Napoleons Expedition gegen Ägypten mit gespanntester Teilnahme. Allerdings hielt er sie anfangs in Wahrheit gegen Portugal gerichtet: "wegen des großen Einflusses Englands auf Portugal" betrachtete schon Kant "dieses Land als eine englische Provinz, durch deren Eroberung England der empfindlichste Streich beigebracht werden könnte" (Wasianski, S. 26). Ein in seinem Nachlaß aufgefundener kleiner Aufsatz, mit dem Titel: 'Rechtfertigung des Direktoriums der franz. Republik wegen seines angeblich ungereimten Plans, den Krieg mit England zu ihrem Vorteil zu beendigen" (Ak.-A. XII, 407 f.) führt aus, der Zug nach Ägypten sei nur zur Verschleierung dieser Absicht unternommen worden, bis man von Spanien die Erlaubnis zu einem Landmarsch und teilweise auch Seetransport französischer Truppen nach Portugal bekomme. Dem ägyptischen Unternehmen "Bonapartes" sprach er jedenfalls keine lange Dauer zu. Darin hat er sich ja auch nicht geirrt, und die Besetzung Portugals hat Napoleon als Kaiser gleichfalls ausgeführt. Auch gegen Abegg äußerte er am 12. Juni bzw. 5. Juli 1798 mündlich die Ansicht, Bonaparte würde bei Karthagena in Spanien landen, Portugal erobern und dadurch im Herbst den allgemeinen Frieden herbeiführen. Er hält es in diesem Falle — vielleicht im Hinblick auf die starke Opposition gegen den Krieg in England selbst und auf den irischen Aufstand, dem er Erfolg wünschte! — für möglich, dass England zur — Republik würde und sein König nur Kurfürst von Hannover bliebe! "Dann würde England wieder aufblühen, ohne andere zu drücken." Und nachdem er sich noch über manche ihrer Einzelmaßnahmen (Teepreiserhöhung, Verfahren Pitts gegen Sidney Smith) entrüstet, faßte er sein Urteil über die damalige englische Politik in die denkwürdigen Kraftworte zusammen: "Die Engländer sind im Grunde die depravierteste Nation. Die ganze Welt ist ihnen England, die übrigen Länder und Menschen sind nur ein Anhängsel, ein Zugehör ... Dies alles macht die Engländer jetzo anspeiungswürdig (! ). Ich hoffe, es wird glücken, dass sie gedemütigt werden."

Im geraden Gegensatz zur englischen Politik, empfahl er ein Bündnis Preußens mit der Republik Frankreich, mit der ersteres ja seit 1795 in Frieden und Freundschaft lebte. "Wenn nur", meinte er am 12. Juni 1798 vor seinen Mittagsgästen, "unser König bald nach Berlin kommt und durch Sieyes' Gründe sich bestimmen läßt, eine vernünftige Partei zu ergreifen, damit durch Preußen und Frankreich vielleicht das Kriegführen unmöglich gemacht werde!*) Denn Rußland ist zu bändigen; es hat kein Geld und kann sich nicht leicht in die auswärtigen Angelegenheiten mengen, ohne zu erfahren, dass im Inneren Unruhen ausbrechen." Bedenkt man, wie manches hiervon mutatis mutandis noch auf die europäische Politik zur Zeit des Weltkriegs zutraf, wird man dem als abstrakten Gelehrten geltenden Weltweisen gewiß realpolitisches Urteil nicht absprechen.

Doch kehren wir zu seiner Stellung zur großen Revolution zurück! Wie sympathisch sie ihm schon in ihren ersten Anfängen war und wie wichtig er sie gleich anfangs einschätzte, das bezeugt sein noch wenig bekannter Brief vom 30. Aug. 1789 an Friedrich Heinrich Jacobi, der ihm eine Schrift des Grafen Windischgrätz 'Von der freiwilligen Abänderung der Konstitution in Monarchien' zugesandt hatte. In ihr fand Kant sein eigenes ethisches Prinzip dargestellt; in der "jetzigen Krisis von Europa" (!) müsse die "zum Teil als wundersam eingetroffene Wahrsagung, zum Teil als weiser Rat für Despoten" von großer Wirkung sein.

 

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*) Der König ist Friedrich Wilhelm III., der damals zu den Huldigungsfeierlichkeiten in Königsberg erwartet wurde. Sieyès war zu jener Zeit französischer Gesandter in Berlin. Das gute Verhältnis zur Republik dauerte noch Jahre lang. Noch 1803 stickte, was ihre Biographen allerdings zu verschweigen pflegen, Königin Luise eine Schärpe für den Ersten Konsul, die sie dem Gesandten Ducrot übergab.


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