Die letzten Jahre (1799—1804)
Tod und Begräbnis
Abnahme der Geisteskräfte
Aus dem außerordentlich lebensvollen Abeggschen Tagebuche gewinnt man den Eindruck, dass der greise Philosoph im Sommer 1798 trotz seiner 74 Jahre geistig noch recht frisch war. Sein ausgezeichnetes Gedächtnis allerdings hatte schon damals nachzulassen begonnen. "Kant lieset seine Schriften nicht mehr," erzählte Professor Pörschke seinem Besucher Abegg, "vergißt, was er geschrieben, versteht auch nicht auf der Stelle recht, was er ehemals wollte sagen." Aber, sobald er wieder die Feder in die Hand nahm, schrieb er, so meinte Scheffner, doch wieder "zusammenhängend und mit alter Kraft". Zeuge die Anthropologie und der 'Streit der Fakultäten', die freilich zum größeren Teil aus schon früher ausgearbeitetem Material bestanden, sowie die Polemik gegen Nicolai (Kap. 6).
Und doch fällt gerade in den Herbst dieses Jahres ein erschütterndes Zeugnis von des Denkers eigenem Empfinden des beginnenden Verfalles seiner Geisteskraft. Es war am 21. September 1798, als er dem gleichfalls leidenden Garve, der ihm für die Zusendung der 'Macht des Gemüts' gedankt und bei dieser Gelegenheit sein eigenes schweres Leiden geschildert hatte, in folgender Weise antwortete: "Ich weiß nicht, ob ... das Los, was mir gefallen ist, von Ihnen nicht noch schmerzhafter empfunden werden möchte, wenn Sie sich darin in Gedanken versetzten; nämlich für Geistesarbeiten, bei sonst ziemlichem körperlichen Wohlsein, wie gelähmt zu sein: den völligen Abschluß meiner Rechnung in Sachen, welche das Ganze der Philosophie (sowohl Zweck als Mittel anlangend) betreffen, vor sich liegen und es noch immer nicht vollendet zu sehen, obwohl ich mir der Tunlichkeit dieser Aufgabe bewußt bin: ein Tantalischer Schmerz, der indessen doch nicht hoffnungslos ist" (über das unvollendete Werk s. sechstes Kapitel). Sein sogenanntes "Gesundsein" sei also im Grunde mehr ein "Vegetieren", das heißt Essen-, Gehen- und Schlafenkönnen als wirkliches geistiges Leben.
Dazwischen kamen dann wieder bessere Tage. So schreibt er bloß vier Wochen später an den getreuen Kiesewetter: "Mein Gesundheitszustand ist der eines alten, nicht kranken, aber doch invaliden, vornehmlich für eigentliche und öffentliche Amtspflichten ausgedienten Mannes, der dennoch ein kleines Maß von Kräften in sich fühlt, um eine Arbeit, die er unter Händen hat, noch zustande zu bringen." Auch im übrigen ist dieser Brief vom 19. Oktober durchaus klar und frisch geschrieben.
Das Jahr 1799 scheint eine merkliche Abnahme seiner Geisteskraft gebracht zu haben. Von den wenigen und kurzen Briefen, die aus diesem Jahre erhalten sind, klagt ein solcher vom 24. Januar dem alten Freund Scheffner, dass "meine mich noch immer schikanierende Unpäßlichkeit" zwar "nicht eben zum Tode hindeute", ihn aber doch "zur Arbeit und für die Gesellschaft unlustig" mache. Und in einem etwas längeren Schreiben aus dem Mai d. J. an den jungen Arzt C. A. Wilmans in Bielefeld entschuldigt er sich, dass er einen zweiten Brief desselben — den ersten 'Von einer reinen Mystik in der Religion' hatte er im 'Streit der Fakultäten' abdrucken lassen — so lange nicht beantwortet habe, mit "einer mir jetzt nicht ungewöhnlichen Zerstreuung"; übrigens könne er sich auch in "Sinn und Behauptung" des von Wilmans hervorgehobenen Satzes "schlechterdings nicht versetzen". Ja, einmal äußerte er schon in diesem Jahre in Gegenwart Wasianskis: "Meine Herren, ich bin alt und schwach. Sie müssen mich wie ein Kind betrachten."
Fragen wir uns nun, ob eine bestimmte Krankheit diesem in den folgenden Jahren sich immer mehr steigernden Schwächegefühl zugrunde lag und hören wir zu diesem Zweck zunächst den greisen Denker selber, so sehen wir, dass er sein Übel Ende 1799 als eine "spastische [= ziehende] Kopfbedrückung, gleichsam einen Gehirnkrampf" (an Erhard 20. Dez. 99, ähnlich an Lehmann 2. Sept., an Kiesewetter Anfang November d. J.) beschreibt. Auch eine Theorie über dessen Ursache hatte er sich zurechtgelegt und äußerte sie in Briefen und noch häufiger, fast täglich, im Gespräch mit ihn besuchenden Freunden. Hätte er bloß von einem "kopfbedrückenden epidemischen Katarrh", wie schon früher an Hufeland (19. April 1797) gesprochen, so brauchte man sich nicht zu wundern. Er leitete aber jenen Gehirndruck merkwürdigerweise von einer seit 1796 aufgetretenen besonderen Elektrizität der Luft ab, die damals auch, wie in der Erlanger Gelehrten-Zeitung ausgeführt worden sei, den Tod auffallend vieler — Katzen, dieser an sich "elektrischen" Tiere, veranlaßt habe. In diese Theorie bohrte er sich immer tiefer hinein, da die Bekannten, aus Zartgefühl und um ihm die dadurch genährte Hoffnung auf Besserung seines Zustandes nicht zu rauben, ihm nicht geradezu widersprachen; geschah es einmal, wie z. B. seitens des jungen Mediziners Jachmann, so konnte er ernstlich böse werden.
Schon damals sahen tiefer blickende Freunde in jenem Kopfdruck mit Recht eine ganz natürliche Alterserscheinung (z. B. Wasianski, S. 50), und eben Dr. Jachmann hat ihn auf die Erscheinungen des Marasmus aufmerksam gemacht. Auch Hufeland, den er in einem erst 1908 aufgefundenen Briefe vom 6. Februar 1798 bei Übersendung seiner Abhandlung 'Von der Macht des Gemüts' um medizinische Ratschläge bat, von deren Befolgung er allerdings "wenig erwarte", sah Kants Leiden als durch "Nervenschwäche des Alters" verursachte Kopfkongestionen an (Kantstudien XIII, 311). In neuerer Zeit hat dann H. Bohn, Professor der Medizin in Königsberg, es wahrscheinlich gemacht, dass der Philosoph in seinen letzten Lebensjahren an der vorzugsweise Greise befallenden Entzündung der inneren Fläche der harten Hirnhaut (Pachymeningitis interna) gelitten hat.1)
War Kant schon früher auf den eigenen Körper sehr aufmerksam gewesen, so verfolgte er jetzt literarische Neuerscheinungen auf medizinisch-chemischem Gebiete mit noch eifrigerer Teilnahme, wie auch die neuesten Veröffentlichungen aus seinem Nachlaß (Ak.-Ausg. XV, 954—980) beweisen. Noch Anfang März 1802 kaufte er sich eine Schrift Augustins 'Vom Galvanismus und dessen medizinischer Anwendung' (1801) und versah sie mit Randbemerkungen, bat auch Wasianski "noch in den letzten Zeiten", ihm Auszüge aus ähnlichen Schriften zu machen. Überhaupt ist in den 'Losen Blättern' aus Kants letzten Jahren öfters von Galvanismus und Luftelektrizität die Rede (ebd. S. 977 A.), zum Datum des 26. Februar 1802 z. B. notiert, dass "Herr Dr. Reusch jetzt den Galvanism bearbeitet". Die Erregbarkeitstheorie des Schotten Brown, die seit 1790 in Deutschland bekannt ward, erschien ihm der Einfachheit ihres Grundprinzips wegen als einer der größten Fortschritte der Medizin.
Die vom 14. Januar 1800 datierte Vorrede zu der Schrift seines Schülers Jachmann, sowie das im gleichen Jahre erschienene Vorwort zu Mielckes Litauischem Wörterbuch (S. 285) zeigen ihn geistig durchaus noch auf der Höhe. Auch das Schreiben vom 2. April an seinen Kollegen Hagen, gewisse physikalischchemische Experimente betreffend, läßt noch keine Abnahme seiner geistigen Kräfte und Interessen vermuten. Bald darauf jedoch muß eine Minderung derselben eingetreten sein. Ein Herr von Delern, der ihn auf der Rückreise aus Rußland im Mai 1800 besuchte, fand "an ihm einen Greis, dessen physische und intellektuelle Kräfte bereits sehr abgenommen hatten, obgleich er noch fortfuhr zu schreiben und man noch über alle Gegenstände mit ihm sprechen konnte. Damals schien besonders — der Thermometer und die Politik seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.2)" Dieser Besucher, der vielleicht gerade als Fremder ein schärferes Auge für Kants Hinfälligkeit besaß, führt den Rückgang von dessen Kräften auf einen "Fall auf dem Eise", das heißt der glattgefrorenen Straße zurück, "den er kurz vorher getan hatte"; Jachmann spricht von einem Fall um eben dieselbe Zeit ("im April oder Mai 1800", S. 215) im Zimmer, und erzählt, von da ab sei der Philosoph nicht mehr aus dem Hause gegangen. Bis dahin hatte er noch immer seine Spaziergänge beibehalten, wenn er sie auch auf die Nähe, anfangs noch das "Lizent", wo ein unbekannter Verehrer eine Bank zum Ausruhen für ihn aufstellen ließ, zuletzt auf den "Königsgarten" unweit seines Hauses eingeschränkt hatte. Er hatte sich dabei, um fester auszuschreiten, ein gewisses senkrechtes Aufstampfen beim Gehen angewöhnt. Als er nun dennoch gefallen war und sich dabei eine Stirnwunde zugezogen hatte, wäre er, wie Jachmann erzählt, zuerst wegen des verunzierenden Pflasters nicht mehr ausgegangen und hätte sich dadurch des Gehens so entwöhnt, dass er nun "schlechterdings behauptete, er hätte nicht mehr die Kräfte dazu".
Ein Brief an Kiesewetter vom 8. Juli dieses Jahres geht zwar auf die von diesem übersandte 'Widerlegung der Herderschen Metakritik' nicht ein, und ist nur kurz, spricht sich aber verhältnismäßig zufrieden mit seinem "77. Jahre" aus, "wo Leibesschwächen (die gleichwohl noch nicht auf ein nahes Hinscheiden deuten) meine letzten Bearbeitungen erschweren, aber, wie ich hoffe, doch nicht rückgängig machen sollen". Er äußert sich sogar ganz behaglich über die von Kiesewetter geschickten, am letzten Sonntag "wie gewöhnlich, zwischen zwei Freunden" mit Vergnügen verspeisten Teltower Rüben; wie denn überhaupt in den wenigen erhaltenen Kantbriefen dieses Jahres weniger von Philosophie als von Dank für Göttinger Würste (an Lehmann, 13. März, und Nicolovius, 2. April 1800), getrocknetem Obst (Lehmann), Passenheimer Rüben (Jensch) und ähnlichen "Artikeln meines Hauswesens" die Rede ist; oder von der Anbringung einer Fenstergardine, "weil mich die Sonne von meinem Schreibtisch verjagt" (an Wasianski, 12. Dezember 1800). Wichtiger ist ein im Entwurf erhaltenes Schreiben an den Anatomen Sömmerring vom 4. August d. J. An den Dank für übersandte "kostbare literarische Geschenke", die er zum Teil seinem jungen Freunde Dr. med. Motherby überlassen, schließt sich zunächst eine Entschuldigung der verspäteten Antwort mit seiner die drei letzten Monate hindurch "den Gebrauch meines Kopfes zwar nicht schwächenden, aber im hohen Grade hemmenden Unpäßlichkeit", die er auch hier der schon "vier Jahre hindurch fortgewährten", sein Nervensystem "einem Gehirnkrampf ähnlich" affizierenden "Luftelektrizität" zuschreibt; die jetzt "auch die mechanische Muskelkräfte der Bewegung (das Gehen) in meinem 77. Lebensjahre, bei sonstiger nicht krankhafter Leibesbeschaffenheit, beinahe unmöglich" mache! Dann aber verliert sich der Entwurf, indem er auf eine uns hier nicht näher interessierende literarische Streitsache übergeht, in allerlei formell und gedanklich unklare, mit stilistischen und grammatischen Mängeln behaftete Sätze wie: "Nun zur Sache nämlich die [!] an mich ergehende Aufforderung selbst. Eine Erklärung meiner seits: dass ich gar nicht gesonnen sei mir [!] durch meinen Brief zu verstehen zu geben dass Sie Ihr Werk als etwas Absurdes ja nicht drucken lassen sollten, und dass [!] ich es [?] einmal bei Gelegenheit äußerte"; später ist noch die Rede von "den Jahrbüchern der preußischen Monarchie, die bei Unzer in Berlin herauskommt (!)"; dann bricht der Entwurf plötzlich ab: wohl, weil der Greis seine mindestens zeitweilige Schwäche selber fühlte.
Nach Hasse, der seit 1801 jede Woche ein- oder zweimal sein Tischgast war, wurde er seit diesem Jahre "merklich kraftloser", und waren seine Gedanken nicht mehr so geordnet wie sonst: "wenn auch nicht selten helle Einsichten wie Blitzstrahlen ihm durch den Kopf fuhren, die von seinem ungemeinen Scharfsinn zeugten" (S. 8). Seine Schwäche offenbarte sich vor allem in einer weiteren starken Abnahme seiner Gedächtniskraft. Er fing an, Erzählungen mehr als einmal an demselben Tage zu wiederholen. Während sich die Eindrücke der Gegenwart und des späteren Alters abschwächten, standen ihm, wie es bei den meisten Greisen zu gehen pflegt, Ereignisse aus seiner Knabenzeit deutlich vor Augen; so konnte er auch lange, in der Schule gelernte, deutsche und lateinische Versreihen, letztere besonders aus Vergil und Lukrez, ohne Anstoß hersagen, während ihm soeben Gesprochenes entfiel. Als Jachmann 1801 von Königsberg fortzog, mußte er dem alten Lehrer seine neue Amtsbezeichnung und Adresse umständlich in die Feder diktieren. Schon damals fühlte. Kant, und zwar, wie sein Biograph mit Recht bemerkt, "vielleicht unangenehmer als bei noch größerer Schwäche", dass ihm bisweilen die Gedanken ausgingen; er glaubte sich dann entschuldigen zu müssen, "dass ihm das Denken und Begreifen schwer würde".
Bereits 1800 hatte er aus diesem Grunde begonnen, sich kleiner Gedanken- oder "Memorien''-Zettel zu bedienen, auf denen er zunächst die Namen der zahlreichen ihn besuchenden Fremden, allmählich aber alle möglichen Kleinigkeiten aufzuschreiben pflegte, die ihm einfielen oder die er von anderen gehört hatte, sowohl um sie selbst besser zu behalten als auch besonders, um für mannigfaltigere Unterhaltung seiner Tischgäste zu sorgen. Solcher Zettel, oft auch Briefumschläge oder abgerissene Papierstücke, waren es schließlich so viele geworden, dass er sie beim Ausweißen seiner Studierstube sämtlich verbrennen lassen wollte. Wasianski rettete sie dann für sich selber und druckt als Beispiel den Inhalt eines derselben ab, indem er aus Zartgefühl (leider!) wegläßt, "was sich entweder auf seine Küche bezieht oder doch nicht fürs Publikum gehört (S. 48). Auch wir geben ihn im folgenden, um dem Leser ein recht anschauliches Bild zu bieten, im Wortlaut wieder: "Stickstoffsäure ist eine bessere Benennung als Salpetersäure. Requisita des Gesundseyns. Clerici, Laici. Jene Regulares, diese Seculares. Von der ehemaligen Belehrung meiner Schüler, Schnupfen und Husten gänzlich zu verbannen (Respiration durch die Nase). Das Wort Fußtapfen ist falsch; es muß heißen Fustappen. Der Stickstoff (Azote) ist die säurefähige Basis der Salpetersäure. Der Winterpflaum (phlogos), den die Schafe von Angora, ja sogar die Schweine haben, die in den hohen Gebirgen von Caschmir gekämmt werden, weiterhin in Indien unter dem Namen Shalws, die sehr theuer verkauft werden. Aehnlichkeit des Frauenzimmers mit einem Rosenknöspchen, einer aufgeblühten Rose und einer Hagebutte. Vermeinte Berggeister, Nickel, Kobolt, Duroc" usw.3). Der praktische Wasianski machte ihm später, statt der abgerissenen Papierstücke, hübsche Büchelchen aus einem Bogen Postpapier in Sedezformat.4)
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1) 'Kants Beziehungen zur Medizin', abgedruckt in Altpreuß. Monatsschr. IX, 609—627.
2) Aus seiner Reisebeschreibung im 'Geographischen Tubus', Bd. XIII, S. 181. Ich verdanke diesen Hinweis Herrn von Langern auf Rudolfswerth (Krain).
3) Schubert, der außerdem noch den Inhalt eines noch ausführlicheren Gedächtniszettels gibt, setzt hinter dem Worte Duroc noch hinzu: "Bonaparte, das französische Konsulat".
4) Eins derselben wurde 1810 von Dr. Motherby (Kants S. W., XI, S. 162—164) Goethe geschenkt, der es als "Heiligtum" aufbewahrte.