Passagen. (Musik) Vom italienischen Passo und Passagio: sind Zierraten der Melodien, da auf eine Silbe des Gesangs mehrere Töne hintereinander folgen oder eine Hauptnote, die eine Silbe vorstellt, durch sogenannte Diminution oder Verkleinerung in mehrere verwandelt wird. In beiden Fällen aber müssen alle Töne der Passage, die Stelle eines einzigen vertreten, folglich leicht und in einem ununterbrochenen Zusammenhang vorgetragen werden. Die Läufe bestehen aus mehreren Passagen über eine Silbe.
Die Passagen werden entweder von dem Tonsetzer vorgeschrieben oder die Sänger und Spieler machen sie selbst, wo der Tonsetzer nur eine Note gesetzt hat. Dazu werden aber schon Sänger und Spieler erfordert, die außer dem guten Geschmack die Harmonie besitzen, damit ihre Passagen, derselben nicht entgegen klingen.
Es gibt zweierlei Passagen. Einige sind wirklich vom Geschmack und der Empfindung an die Hand gegeben, weil sie den Ausdruck unterstützen; andere sind bloß zur Parade, wodurch Sänger und Spieler ihre Kunst zeigen wollen. Diese verdienen nicht in Betrachtung genommen zu werden als insofern man das Unschickliche davon vorstellen und dagegen als gegen eine den guten Geschmack beleidigende Sache, Vorstellung tun will. Sie sind Ausschweifungen, wozu die welschen Sänger auch unsere besten Tonsetzer verleitet haben. Besonders sind die sogenannten Bravourpassagen, ungeheure Auswüchse, die wenigstens in Singesachen nicht sollten geduldet werden, es sei denn etwa zum Spaß in komischen Operen.
Dass es Passagen von der ersten Gattung gebe, die zum Ausdruck sehr charakteritisch sind, wird Niemand leugnen, der gute Sachen von unseren besten Tonsetzern gehört hat. Ja man kann behaupten, dass sie der singenden Leidenschaft natürlich seien. In zärtlichen Leidenschaften geschieht es gar oft, dass man sich gerne auf einem Ton etwas verweilt. Wenn dann dieser Ton eine die Leidenschaft schmeichelnde Verzierung verträgt, so entsteht ganz natürlich eine Passage. In folgender Stelle, aus der Arie; Ihr weichgeschaffne Seelen,1 sind die Passagen ungemein wohl erfunden, um eine schmerzhaft zärtliche Leidenschaft auszudrücken; ob sie gleich hier, um dieses beiläufig zu erinnern, am unrechten Orte stehen; da der, welcher singt, nicht selbst in dieser Leidenschaft ist. So steht auch im Anfang einer anderen Arie, in gedachter Paßion, die, sonst sehr abgenutzte Passage, hier zu lebhafterm Ausdruck der Bewunderung sehr gut. Nichts ist geschickter den höchsten Schmerz auszudrücken als folgende Passage:2 Aber in heftigen und schnellströhmenden Leidenschaften und wo das Herz eilt seiner Empfindung schnell Luft zu machen; da sind die Passagen selten natürlich. Und da sie im Grunde Verzierungen sind und etwas angenehmes haben, so schwächen sie die Heftigkeit des Ausdrucks. Man betrachte folgende Stelle aus einer Graunischen Arie. Nach meiner Empfindung hat dieser Ausdruck des Wortes paventi, der schreckend sein soll, durch die kleine Passage der beiden letzten Silben etwas eher schmeichelndes als schreckhaftes bekommen und die Art, wie das Wort furore beidemale gesungen wird, hat eher etwas beruhigendes als drohendes.
Es mögen sich einige einbilden, dass die Arien ohne Passagen zu einförmig und so gar langweilig werden würden. Allein dieses ist nicht zu befürchten, wenn nur der Tonsetzer geschickt genug ist, alle Vorteile der Modulation und der begleitenden Instrumente, wohl zu nutzen. Die so eben angeführte Arie Giam' affretta il furor mio, wo am Schluss des zweiten Teiles die so eben angeführte schmerzhafte Passage vorkommt, ist sonst durchaus ohne Passagen und es ist gewiss eine der vollkommensten Opernarien.
Was die Passagen, die die Sänger für sich machen, betrifft, sollte jeder Kapellmeister sich die Maxime des berühmten ehemaligen Kurfürstl. Hanoverischen Kapellmeisters Stephani zueignen, der durchaus nicht leiden wollte, dass ein Sänger eine Note, die ihm nicht vorgeschrieben war, hinzusetzte. Ich weiß wohl, dass diese Leute nicht allemal zu zwingen sind, vornehmlich, da ein so großer Teil ihrer Zuhörer den willkürlichen Passagen so oft Bravo zuruft.
Zum wenigsten sollte der Kapellmeister sich solcher Sünden gegen den Geschmack nicht noch dadurch teilhaftig machen, dass er sie selbst begeht. Die Raserei für die willkürlichen Passagen hat eigentlich das Verderben in die Singemusik eingeführt, worüber gegenwärtig mit so viel Recht geklagt wird. Mancher unberufene Tonsetzer, der nicht Genie und Empfindung genug hat, den wahren Ausdruck der Leidenschaft durch ein ganzes Stück fortzusetzen, begnügt sich damit, dass er etwa eine Melodie in dem schicklichen Ausdruck angefangen hat: danach schreibt er eine Folge von Passagen hin, durch die der Sänger seine Geschicklichkeit zeigen kann und die sich gleich gut zu allen Arten der Empfindung schicken; und dann glaubt er eine gute Arie gemacht zu haben. Möchte doch jeder Kunstrichter seine Stimme gegen Ausschweifungen erheben, die der wahren Musik so verderblich sind!
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1 In Grauns Passion.
2 Grauns Op. Angeliea und Medor aus der Aria Gia m' affretta etc.