Gemälde (Redende Künste)

Gemälde. (Redende Künste) Die Dichtkunst hat auch ihre Art zu zeichnen und ihr Kolorit, wie die Malerei. Überhaupt ist fast jedes Gedicht ein Gemälde: doch wird diese Benennung nur den einzeln Stellen der Gedichte gegeben, wo sinnliche und besonders sichtbare Gegenstände, wie auf dem Vorgrund, näher ans Auge gebracht und bis auf ganz kleine Teile ausgezeichnet werden. Ein Gedicht gleicht einer gemalten Landschaft, auf welcher der größte Teil der Gegenstände in einer Entfernung steht, in der sie nur überhaupt gesehen werden, und, nur im Ganzen betrachtet, die allgemeine Vorstellung eines fruchtbaren oder wilden, eines reichen oder eines magern, eines einsamen oder bewohnten Landes, erwecken; einige besondere Gegenstände aber werden nahe an dem Vorgrund einzeln wohl ausgezeichnet, dass man sie groß, wie in der Nähe sieht und auch die einzeln Teile daran unterscheidet. Auf eben diese Weise verfährt auch der Dichter, der den größten Teil seiner Gegenstände etwas allgemein und nur überhaupt bezeichnet, andere aber so genau und so umständlich, dass sie uns näher als alles übrige vorkommen, so dass wir sie gerade und ganz nahe vor uns zu sehen vermeinen. Diesen besonders ausgezeichneten einzeln Teilen geben wir vorzüglich den Namen der Gemälde, ob er gleich auch dem ganzen Gedich te zukommt.

 In den Gedichten nehmen sich diese Gemälde so aus, wie vor einem Wald oder Busch, den man vor sich sieht, ein einzelner dem Auge nahe stehender Baum, an dem man jeden Ast und Zweig, auch so gar einzele Blätter unterscheidet, da der Wald nur überhaupt als eine einzige Masse von Bäumen, in der man nichts als die allgemeine Form und übrige Beschaffenheit sieht, ohne einen Baum darin einzeln zu unterscheiden, in die Augen fällt.

 Indem man ein Gedicht, wie die Ilias, Äneis oder andre von dieser Art ließt, bildet man sich ein, man sehe die Sachen meistenteils in einiger Entfernung als Sachen von denen man ein bloßer Zuschauer ist. Hier und da aber findet man einzelne Szenen, die man so zu sehen glaubt als wenn sie dichte vor uns lägen oder als wenn man selbst unmittelbar dabei intressiert sei. Dieses sind die eigentlichen poetischen Gemälde. So sehen wir im Anfang der Äneas die Trojaner wie von weitem auf dem Meer fahren, um einen neuen Wohnplatz zu suchen; wir vernehmen, dass die Rachsucht Anschläge gegen diese Abenteuerer mache, um sie in ihrem Vorhaben zu hindern u. s. f. Dieses alles liegt gleichsam fern von uns, bis der Dichter das lebhafte Gemälde des Sturms, der sie überfällt, zeichnet. Da glauben wir mit ihnen auf der See zu sein, wir hören das Geschrei der Männer, das Getöse des Windes und der Wellen u. s. f. und wir geraten in Furcht und Schrecken als wenn wir selbst in dieser Not wären.

 

          Sepulchri Immemor, struis domos; Marisque Baiis obstrepentis urgues Summovere littora, Parum locuples continente ripa. Quid quod usque proximos Revellis agri terminos, et ultra Limites clientium Salis avarus?

so gibt er uns zwar eine sinnliche und ziemlich lebhafte Abbildung eines gewalttätigen Schwelgers: aber durch das folgende kleine Gemälde,

–– –– pellitur paternos In sinu ferens Deos Et Uxor et vir, sordidosque natos.

werden wir noch weit lebhafter gerührt. Wir sehen nun, wie ein von ihm unterdrückter Landmann, nakend und bloß von Haus und Hof vertrieben wird und werden dadurch äußerst auf den Tyrannen aufgebracht.

 Die Natur dieser Gemälde besteht darin, dass der Gegenstand umständlicher als es in der übrigen Materie des Gedichtes geschieht, ausgezeichnet und durch einen malerischen Ausdruck gleichsam mit lebendigen Farben bemahlt wird. Der Dichter verfährt hierin genau wie der Maler, der in einer Landschaft den größten Teil der Gegenstände nur überhaupt so vorstellt, wie sie in der Entfernung erscheinen und nur einige wenige Teile genau auszeichnet und mit allen Schattierungen und Mittelfarben mahlt. So macht es Homer, wenn er Schlachten beschreibt. Von weitem stellt er das Heer überhaupt vor, in welchem man wohl die Wendungen und Bewegungen des ganzen Haufens, aber keinen einzeln Streiter gewahr wird; einige Hauptpersonen aber bringt er ganz nahe vors Gesicht; denn man hört sie reden, sieht sie nicht nur einzeln und vom Heer abgesöndert, sondern bemerkt genau ihre Rüstung, ihre Stellung und so gar einzelne Gesichtszüge.

 Es wird also überhaupt zu Verfertigung eines poetischen Gemäldes weiter nichts erfordert als dass der Dichter seinen Gegenstand genau und bisweilen nach den kleinsten Teilen zu beschreiben und dem Ausdruck die nötigen poetischen Farben zu geben wisse2.

Überall wo er dieses tut, hat er ein poetisches Gemälde gemacht. Aber das Feine der Kunst besteht darin, dass er bei dem Gemälde kurz und nachdrücklich sei, dass er ihm mit wenig meisterhaften Zügen das wahre Leben zu geben wisse. Es ist eine schwere Kunst sichtbare Gegenstände in wenig Worten zu beschreiben. Und doch ist die Kürze dabei unumgänglich notwendig; denn es würde höchst langweilig und verdrießlich sein, jedes Einzele, das der Phantasie vorschweben muss, um einen Gegenstand als ganz nahe zu sehen, besonders auszudrücken. Darum muss der Dichter hier Worte zu wählen wissen, die sehr viel mehr Begriffe erwecken als unmittelbar darin liegen; er muss Ausdrücke und Wendungen finden, die plötzlich alle Nebenbegriffe erwecken, die sich einzeln nicht ausdrücken lassen. Darin besteht die eigentliche Kunst der poetischen Malerei. Das vorher angeführte kleine Gemälde des Horaz, wird durch das einzige malerische Wort Sordidos, sehr lebhaft, man glaubt die mit Lumpen bedeckte und aus höchster Armut schmutzige Kinder zu sehen. Der kleine Umstand paternos in sinu ferens Deos, zeigt mit wenig Worten sehr viel an. Die Vertriebenen sind ehrliche, fromme Leute, ihnen ist gar nichts mehr übrig gelassen, das sie aus ihrer Wohnung wegtragen könnten als die von ihren Ältern ererbten elenden Bilder ihrer Hausgötter und die tragen sie, nebst ihren Kindern auf den Armen weg u. s. f.

 Die Gemälde sind überhaupt in der Dichtkunst von der größten Wichtigkeit, weil sie den Gegenständen die höchste Deutlichkeit und Kraft geben. Was man nur obenhin und gleichsam von weitem sieht, erweckt auch nur allgemeine und undeutliche Vorstellungen, davon keine große Wirkung zu erwarten ist: jeder Eindruck, der im Gemüte wirksam sein soll, muss von nahen Gegenständen verursacht werden. Es ist mit allen Arten der Vorstellungen so, wie mit Erzählungen von glücklichen oder unglücklichen Begebenheiten, die uns immer nach der Entfernung des Orts, da sie vorgefallen sind, weniger rühren. Allgemeine Drangsalen und Unglücksfälle, wie Krieg, Pest, Feuer- und Wassersnot, die in weit entlegenen Län dern sich eräugnen, machen nur schwachen Eindruck: aber je näher die Szene der Not uns liegt, je wirksamer ist die Vorstellung und wenn wir sie selbst sehen, so empfinden wir die höchste Wirkung davon. So ist es mit allen Vorstellungen beschaffen.

 Deswegen soll der Dichter, wo er das Gemüt recht angreifen will, die dazu nötigen Gegenstände uns so nahe fürs Gesichte bringen, dass wir sie dichte vor uns zu sehen glauben: und darin besteht die Kunst der poetischen Malerei. Wer diese nicht versteht, der kann nie starken Eindruck machen. Es scheint, dass das Wesentliche der Kunst in der genauen Beobachtung der allgemeinen Perspektiv, wenn man es so nennen darf, bestehe, die jedem einzeln Teil des Gedichts seine Entfernung, seine Größe, seine Ausführlichkeit in Zeichnung und Farbe bestimmt. Nur da, wo alle Regeln dieser Perspektive genau beobachtet sind, entsteht die vollkommen gute Wirkung des Ganzen. Diese Kunst muss der Dichter von dem Landschaftmaler lernen. Alles, was bloß überhaupt dient seine Landschaft zu charakterisiren, wird in die Entfernung gesetzt: die mittlern Gründe werden mit Sachen angefüllt, die das besondere der Vorstellung näher bezeichnen, ihre Hauptteile erscheinen schon in einiger Deutlichkeit; die Hauptsachen aber, eine Gruppe von Figuren, die Handlung, die der Maler in seiner Landschaft vorstellen will, wird auf den vorder sten Grund ins Große gezeichnet. Die Personen sind uns so nahe, dass wir ihre Gesichtsbildung sehen, jede Gebärde bemerken und sie fast reden hören. Dieses beobachtet auch der Dichter. So hat es Thomson in seinen Schildereien der Jahrszeiten gemacht. Jede Jahrszeit stellt uns eine sehr ausgebreitete Landschaft vor, deren allgemeiner Anblick auch die der Jahrszeit angemessenen allgemeinen Eindrücke macht. An verschiedenen Stellen des Hauptgrundes aber, der zu nächst vor uns liegt, hat er die reizenden Gemälde verteilt, derenthalben eigentlich die ganze Landschaft gemalt worden.

 Es ist also eine Hauptsache, dass nur das Wesentliche der Vorstellungen in besonders ausgeführten Gemälden gezeichnet werde; weniger wesentliche Dinge müssen flüchtiger behandelt werden, damit sie, wie die Maler sagen, zurück treten. Es ist ein merklicher Fehler und verschiedene gute deutsche Dichter haben ihn begangen, wenn ein Gedicht mit Gemälden überhäuft wird. Man sehe die große Menge derselben in Kleists Frühling und in Zachariäs Tageszeiten! So schön jedes Gemälde an sich ist, so sehr tut ihre Anhäufung dem ganzen Schaden. Man hat in Frankreich unsere Dichter mit Recht darüber gelobet, dass sie sehr gute Maler sind und mit eben dem Recht getadelt, dass sie von diesem wichtigen Talent einen Mißbrauch machen. Kein Maler, der die Kunst in ihrem ganzen Umfange besitzt, wird auf seinen Hauptgrund viel einzele, genau ausgemalte Gruppen anbringen. Im Gedicht über die Alpen scheint Haller in Ansehung der Menge einzelner Gemälde, das äußerste Maß erreicht zu haben; nur etwas mehr würde schon Überflus sein. Seine Gemälde aber stellen noch immer Hauptsachen vor, die wesentlich zu seinem Inhalt gehören.

 Man hat den Gedichten, darin eine Mannigfaltigkeit von Gemälden vorkommt, den besonderen Namen der malerischen Gedichte gegeben; und sie machen in der Tat eine eigene Gattung aus. Bei uns hat Haller, so wie in England Thomson, dieselbe empor gebracht. Sie muss aber, wie gesagt, mit großer Klugheit behandelt werden, damit nichts geringschätziges als eine Hauptsache zu nahe vors Gesicht komme und damit auch nicht die Menge der Gemälde eine Verwirrung verursache. Die Landschaften nehmen sich nie gut aus, deren Hauptgrund mit Gruppen überhäuft ist.

 In dem epischen Gedicht und in dem Lehrgedichte dienen einzelne Gemälde gar sehr, um dem Ganzen Leben und Stärke zu geben. Es gehört aber eine sehr reife Beurteilungskraft dazu, dass sie nicht zur Unzeit, sondern da angebracht werden, wo sie einem wichtigen Teil der Hauptvorstellung zur Verstärkung dienen. Hierin hat Homer sich als einen Mann von Verstand gezeigt; und es wäre der Mühe wert, dass jemand die einzeln Gemälde der Ilias, jedes nach dem Orte, den es im Ganzen und in den Hauptteilen einnimmt und der Wirkung, die es da tut, in nähere Beurteilung nähme.

 Alle über die poetischen Gemälde hier gemachten Anmerkungen können auch auf diejenigen Stellen eines Gedichts oder einer Rede angewendet werden, wo besondere Gedanken näher bestimmt und ausgezeichnet werden. Die schöne Rede, die nicht bloß ein Werk des Verstandes, sondern auch des Geschmacks ist, verhält sich zu der bloß philosophischen Rede, da es allein um die genaue und methodische Entwicklung der Gedanken zu tun ist, wie die perspektivische Zeichnung einer Landschaft, zu einem Grundriss oder wie eine gemalte Landschaft, zu einer Landcharte, die dieselbe Gegend vorstellt. In der Landcharte ist jeder Ort gleich deutlich und in seiner wahren Lage angedeutet; alles ist uns da gleich nahe; in der Landschaft aber fällt jedes so ins Gesicht, wie man es aus einem gewissen Stand und aus einem Gesichtspunkt sieht; das Nahe ist groß und ausführlich, das Entfernte klein und undeutlich. In einem bloß auf den deutlichsten Unterricht abzielenden Vortrag, wie philosophische und mathematische Beweise sind, muss alles gleich deutlich, gleich bestimmt, und, so zu sagen, gleich nahe vor dem Auge liegen, wie die Oerter in einer Landcharte oder in einem Grundriss; aber das Werk des Redners ist gleichsam perspektivisch entworfen. Die Hauptsache kommt in die Nähe, wird umständlich gezeichnet und bis auf die kleinsten Teile ausgeführt; die Nebensachen werden flüchtig behandelt und viele zugleich nehmen wegen der Entfernung nur einen kleinen Raum ein. Also macht auch da, wo keine sichtbaren Gegenstände vorkommen, das Nahe oder Ausführliche eine Art des Gemäldes. Die Gegenstände müssen, so wie im Gemälde, gruppirt sein, wie schon an einem anderen Ort auch erinnert worden3. Es würde von großem Nutzen sein, wenn sich ein verständiger Kunstrichter die Mühe geben wollte, die Theorie dieser rednerischen Perspektive und der besonderen Behandlung der, auf jeden Grund kommenden, Gegenstände besonders auszuarbeiten.

 

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1 Od. L. II. 18.

2 S. Farben (poetische)

3 S. Erzählung. S. 353.

 


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