Gesang. Es ist nichts leichters als den Unterschied zwischen Gesang und Rede zu fühlen; gleichwohl sehr schwer ihn zu beschreiben. Beide sind eine Folge verschiedener Töne, die sich so wohl durch Höhe und Tiefe als durch ihre besondere Bildung von einander unterscheiden. Doch scheint es, dass die Töne, die den Gesang ausmachen, sich durch etwas Anhaltendes und Nachschallendes von den Tönen der Rede unterscheiden. Diese werden durch einen schnellen Stoß gleichsam aus der Kehle heraus geworfen; jene durch einen anhaltenden Druck heraus gezogen. Diese prägen dem Gehör eine bestimmtere Empfindung von ihre Höhe, ihrer Bildung und ihrem Verhältnis unter einander ein als jene., Da man aber den Unterschied zwischen Gesang und Rede klar genug fühlt, so verliert die Musik nichts dadurch, dass man ihn nicht deutlich entwickeln kann.
Der Gesang ist dem Menschen so wenig natürlich als die Rede: beide sind Erfindungen des Genies, jene durch das Bedürfnis, diese vermutlich durch Empfindungen, veranlasst. Es ist sehr schwer die verschiedenen Schritte anzugeben, die das Genie hat tun müssen, um diese Erfindungen zu Stande zu bringen. Ganz unwahrscheinlich ist es, dass der Mensch durch Nachahmung der singenden Vögel auf den Gesang gekommen sei. Die einzeln Töne, woraus der Gesang gebildet ist, sind Äusserungen lebhafter Empfindungen; denn der Mensch, der Vergnügen, Schmerz oder Traurigkeit durch Töne äussert, dergleichen die Empfindung, auch wider seinen Willen, von ihm erpreßt, lässt nicht Töne der Rede, sondern des Gesangs hören. Also sind die Elemente des Gesangs nicht so wohl eine Erfindung der Menschen als der Natur selbst. Wir werden Kürze halber diese, von der Empfindung dem Menschen gleichsam ausgepreßte Töne, leidenschaftliche Töne nennen. Die Töne der Rede sind zeichnende Töne, die ursprünglich dienten, Vorstellungen von Dingen zu erwecken, die solche oder ähnliche Töne hören lassen. Itzt sind sie meistens gleichgültige Töne oder willkürliche Zeichen: die leidenschaftlichen Töne sind natürliche Zeichen der Empfindungen. Eine Folge gleichgültiger Töne bezeichnet die Rede und eine Folge leidenschaftlicher Töne, den Gesang.
Der Mensch ist natürlicher Weise geneigt so wohl den vergnügten als den traurigen Empfindungen, zumal, wenn sie von zärtlicher Art sind, nachzuhängen und sich in denselben gleichsam einzuwiegen. Nun scheint das Gehör gerade derjenige von allen Sinnen zu sein, der zu Reizung und Unterhaltung der Empfindungen gemacht ist. Wir sehen, dass Kinder, die noch nichts von Gesang wissen, wenn sie in vergnügter oder trauriger Laune sind, sich durch dazu schickende Töne darin unterhalten. Durch diese Töne hat die Laune etwas Körperliches, woran sie sich festhalten und wodurch sie sich eine Fortdauer verschaffen kann. Daraus lässt sich einigermaßen begreifen, wie der Mensch, bei gewissen Empfindungen, eine Reihe singender Töne bildet und sich dadurch in dem Zustand einer, ihn beherrschenden Laune, unterhält.
Dieses allein macht aber den Gesang noch nicht aus; denn erst, wenn abgemessene Bewegung und Rhythmus zu dem vorhergehenden hinzukommt, entsteht der eigentliche Gesang. Auch diese scheinen, so wie die leidenschaftlichen Töne, in der Natur der Empfindungen ihren Grund zu haben. Eine bloße Wiederholung solcher Töne ist nicht hinreichend, das Nachhängen der Empfindung und das Beharren in derselben zu bewirken; dieses tut eine gleichförmig anhaltende Bewegung besser. So wie das Wiegen die Sammlung der Lebensgeister zur Ruhe befördert und den Geist in dem Zustande, darin er einen Gefallen hat, unterhält, so gibt es ähnliche Bewegungen, wodurch andere Empfindungen fortdaurend unterhalten werden. Dieses fühlt auch der rohe unachtsame Mensch und das noch nicht nachdenkende Kind. Man sieht, dass beide mit der Wiederholung leidenschaftlicher Töne, eine gewisse gleichförmige Bewegung des Körpers, ein regelmäßiges und in gleichen Zeiten wie derholtes Hin- und Herwanken desselben verbinden, worin ohne Zweifel der natürliche Ursprung des Takts zu suchen ist. Nichts ist bequemer, uns eine Zeitlang in denselben Empfindungen zu unterhalten als eine gleichförmige, in gleiche Glieder abgeteilte, Bewegung, wodurch die Aufmerksamkeit auf denselben Gegenstand festgehalten wird. Und so lässt sich einigermaßen der Ursprung des Gesangs begreifen, den man durch eine, in bestimmter einförmiger Bewegung fortfließende Folge leidenschaftlicher Töne, erklären kann. Bei allen Nationen, selbst denjenigen, die dem Stande der Wildheit noch am nächsten kommen, findet man Tanzgesänge von genau bestimmtem Takt und Rhythmus: und diese Beobachtung bestätiget das, was wir vom Ursprung des Gesangs angemerkt haben. Es ist zum Gesang nicht notwendig, dass die Töne von menschlichen Stimmen angegeben werden, denn auch einer bloßen Instrumentalmelodie gibt man den Namen des Gesangs, so dass die Wörter, Gesang und Melodie, meistenteils gleichbedeutend sind. Aber der Gesang der menschlichen Stimme ist freilich der ursprüngliche und vollkommenste, weil er jedem Ton auf das genaueste die besondere Bildung, die der Affekt erfordert, geben kann; da einige Instrumente, wie das Klavier, ihn gar nicht modificiren können, andere aber es doch weit unvollkommener tun als die Kehle des Sängers.
Die wesentliche Kraft der Musik liegt eigentlich nur im Gesang; denn die begleitende Harmonie hat, wie Roußeau sehr richtig anmerkt, wenig Kraft zum Ausdruck: sie dient bloß den Ton anzugeben und zu unterstützen, die Modulation merklicher zu machen und dem Ausdruck mehr Nachdruck und Annehmlichkeit zu geben. Aber in der Melodie allein liegen die mit unwiderstehlicher Kraft belebten Töne, die man für Äusserungen einer empfindenden Seele erkennt. Der Mensch hat drei Mittel seinen Gemütszustand an den Tag zu legen; die Rede, die Mine nebst den Gebärden und die leidenschaftlichen Töne. Das letzte übertrift die anderen an Kraft sehr weit und dringt schnell in das innerste der Seele.
Fortius irritant animos demissa per aurem Quam quæ sunt oculis subjecta.1
Daher hat der Gesang über alle Werke der Kunst den Vorzug, um Leidenschaft zu erwecken. Die Zeichnung gibt uns Kenntnis der Formen und der Gesang erweckt unmittelbar das Gefühl der Leidenschaft.
Hiervon ist aber an einem anderen Ort ausführlicher gesprochen worden.2 Hier wird dieses nur darum angeführt, um den Tonsetzer, der dieses ließt, zu überzeugen, dass er sein größtes Verdienst durch den Gesang erwerben müsse. Er muss ein reiner Harmoniste sein, aber bloß um seinem Gesang die völlige Reinheit zu geben. Da aber diese ohne den Ausdruck zu nichts dient, so muss sein größtes Studium auf den leidenschaftlichen Gesang gerichtet sein. Melodie, Bewegung und Rhythmus sind die wahren Mittel das Gemüt in Empfindung zu setzen: wo diese fehlen, da ist die höchste Reinheit der Harmonie eine ganz unwirksame Sache.
Wir raten deswegen den jungen Tonsetzern, nicht alle ihre Zeit auf das Studium der Harmonie zu wenden, sondern den Gesang als die Hauptsach ihrer Kunst anzusehen. Melodische Schönheiten muss das Genie ihnen eingeben; aber um eine völlige Kenntnis von Bewegung und Rhythmus zu erlangen und beide in seine Gewalt zu bekommen, dazu wird Arbeit und Studium erfordert. Die Tanzmelodien verschiedener Nationen enthalten beinahe alle Arten der Bewegung und des Rhythmus und nur der, welcher sich hinlänglich darin geübt hat, kann ein Meister im Gesang werden.
Von dem Vortrag des Gesangs, wird in einem besonderen Artikel gesprochen.3
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1 Horaz sagt segnius, aber er redet von der gemeinen Sprache. Des Dichters Anmerkung wird sehr zur Unzeit angeführt, um die Kraft der Malerei über die Musik damit zu beweisen. Horaz sagt in dieser Stelle, die Sachen, die man sehe, machen stärkern Eindruck als die, welche man nur aus Erzählungen oder Beschreibungen vernehme und dieses ist völlig richtig: wir sagen, dass überhaupt die Seele durch das Gehör stärker als durch das Gesicht gerührt werde und auch dieses ist wahr. Die gebrochenen Töne, die der Schmerz einem leidenden Menschen auspreßt, dringen stärker in uns als die Leidenankündigenden Gesichtszüge.
2 S. Musik.
3 S. Singen.