Gedicht

Gedicht. Man hat schon von sehr langer Zeit her versucht, den eigentlichen Begriff des Gedichts festzusetzen, vermittelst dessen man das Werk der Dichtkunst von dem, was die Beredsamkeit hervorbringt, unterscheiden könnte; denn schon Aristoteles hat davon gesprochen. »Die gebundene und ungebundene Rede, sagt dieser Philosoph, unterscheiden den Geschichtschreiber und den Dichter nicht genug; denn wenn man auch die Geschichte des Herodotus in Versen vortragen wollte, so würde sie dennoch eine Geschicht und kein Gedicht sein. Diese beide Gattungen sind darin wesentlich von einander unterschieden, dass jene die Sachen erzählt, wie sie geschehen sind, diese, wie sie hätten geschehen können.«1 Seitdem der griechische Kunstrichter diese Frage, vielleicht zuerst, aufgeworfen und so gut als er konnte, beantwortet hat, ist sie tausendmal wiederholt und jedesmal, wo nicht ganz, doch zum Teil unentschieden gelassen worden. Denn auch die genaueste und richtigste Erklärung des Begriffs, die, welche Baumgarten gegeben hat,2 bestimmt ihn nicht völlig, da in dem Begriffe des Vollkommenen noch immer viel unbestimmtes ist.

 Es kann aber auch nicht anders sein; denn die gemeine Rede, die, welche ein Werk des Redners ist und die, die von der Dichtkunst erzeugt wird, sind Werke, die mehr durch Grade als durch wesentliche Kennzeichen in verschiedene Arten abgesondert werden. In dergleichen Dingen aber lassen sich die Grenzen, wo die Arten aufhören oder anfangen, nicht unterscheiden. Wer kann das Jahr angeben, wo der Jüngling zum Mann und der Mann zum Greis wird? Darum darf es uns nicht befremden, dass man Werke der redenden Kunst antrift, von denen man ungewiss ist, ob sie der Beredsamkeit oder der Dichtkunst zugehören.

 Dessen ungeachtet aber ist weder die Einteilung der redenden Kunst in gemeine Rede, Beredsamkeit und Dichtkunst zu verwerfen, noch die Versuche jede Art durch Kennzeichen zu bestimmen, zu tadeln. Die Baumgartensche Erklärung des Gedichts, dass es eine vollkommene sinnliche Rede sei, ist so richtig und so bestimmt als sie sein kann, ob sie gleich nicht in jedem Fall hinreicht, zu entscheiden, ob ein Werk der Beredsamkeit oder der Dichtkunst zuzuschreiben sei. Vielleicht wäre die Erklärung etwas bestimmter, wenn man sagte; das Gedicht sei eine sinnliche Rede, die jede Art der Vollkommenheit an sich hat, die ihr Inhalt verträgt. Aber dadurch würde keiner ungebundenen Rede der Name des Gedichts zukommen, weil jede Rede den Wohlklang, der aus dem Vers entsteht, verträgt.

 Wir wollen indessen versuchen, die gemeine Rede, die Beredsamkeit und die Dichtkunst, jede durch ihr zukommende Kennzeichen, zu unterscheiden.

 Die gemeine Rede, ist gleichsam eine historische Erzählung dessen, was wir denken. Sie sucht ohne alle Veranstaltungen sich geradezu auszudrücken und ist mit jedem Ausdruck zufrieden, wenn er nur bestimmt und verständlich ist. Die Beredsamkeit ist überlegter und künstlicher; da sie nicht bloß die Absicht hat verständlich zu sein, sondern durch das, was sie vorbringt, etwas besonderes auszurichten sucht, so überlegt sie genau, was sie zu diesem besonderen Zweck zu sagen hat; sie sucht von den Vorstellungen, die sich ihr darbieten, die besten und schicklichsten aus, ordnet sie um ihnen mehr Kraft zu geben, wählet den besten Ausdruck, gibt der Rede auch durch den Ton und Abfall der Worte eine ästhetische Kraft, hat unaufhörlich den Zuhörer, auf den sie wirken will, vor Augen. Die Dichtkunst hat mehr den lebhaften Ausdruck des Gegenstands ihrer Vorstellung als die besondere Wirkung, die er auf andere tun soll, zum Augenmerk. Der Dichter ist selbst lebhaft gerührt und von seinem Gegenstand in Leidenschaft, wenigstens in Laune gesetzt: er kann der Begierde, seine Empfindung zu äussern, nicht widerstehen; er wird hingerissen. Seine Hauptabsicht ist, den Gegenstand der ihn rührt, lebhaft zu schildern und zugleich den Eindruck, den er davon empfindet, zu äussern: er redet, wenn ihm auch niemand zuhören sollte, weil ihn seine Empfindung nicht schweigen lässt. Er überlässt sich den Eindrücken, die seine Materie auf ihn macht, so sehr, dass man aus seinem Ton und aus seinem wenig überlegten Ausdruck merkt, er sei ganz von seinem Gegenstand eingenommen. Dieses gibt seiner Rede etwas ausserordentliches und phantastisches, dergleichen Menschen annehmen, die bei starken Empfindungen sich selbst vergessen und selbst in Gesellschaft so reden und handeln als wenn sie allein wären.

 Es scheint, dass dieser sich mehr oder weniger äussernde phantastische Ton, den man in der Rede bemerkt, den eigentlichen Charakter des Gedichts ausmache und dass die einigermaßen schwärmerische Gemütsfaßung, in welche lebhafte Köpfe bei Erblickkung gewisser Gegenstände gesetzt werden, die Quelle der Dichtkunst sei. Ohne merkliche Leidenschaft und Überwältigung von derselben, scheint natürlicher Weise kein Gedicht entstehen zu können. Nur jetzt, da die Poesie zu einer gewöhnlichen Kunst worden ist, tut die Nachahmung dieses natürlichen Zustandes das, was in dem Stande der bloßen Natur nur die starke Rührung tun würde. Daher sehen wir, dass die Dichter sich noch oft anstellen als wenn sie auch wider ihren Willen getrieben würden, ihr Herz auszuschütten. Es ist damit, wie mit dem Tanz, der in sei nem Ursprung nichts anders als ein leidenschaftlicher, schwärmerischer Gang ist. Wilde Völker, bei denen noch nichts zur Kunst geworden, tanzen nie als wenn sie in Leidenschaft gesetzt sind: aber wo das Tanzen zur Kunst geworden, da tanzt man auch mit kaltem Geblüte. Doch stellt man sich immer dabei an als wenn irgend ein kräftiger Gegenstand diese phantastische Gemütslage hervorgebracht habe. Dass so wohl Poesie als Tanz eine solche Fassung zum Grund haben, wird auch noch dadurch offenbar, dass beide die Unterstützung der Musik bedürfen. Diese unterhält die Empfindung und reizt die schon aufgebrachte Einbildungskraft noch mehr. Sie wiegt das Gemüt in seiner eigenen Empfindung ein, dass der Dichter und Tänzer sich völlig vergessen und bloß dem nachhängen, was sie empfinden.

 Aus dieser Entwicklung des Ursprungs der Poesie lässt sich der wahre Charakter des Gedichts bestimmen. Wer der Gemütsfaßung, die eine so ausserordentliche Rede als das Gedicht ist, natürlicher Weise hervorzubringen vermag, nachdenkt, wird finden, dass sie der Rede viel Eigenes und Charakteristisches geben müsse. Und eben darin wird das Wesen des Gedichts zu suchen sein.

 Zuerst wird der Ton der Rede den Charakter der Empfindung an sich haben. Sie kann nicht so zufällig und so ungebunden fliessen als die gemeine Rede; denn da die Empfindung immer einerlei ist und sich immer gleichsam auf sich selbst herum dräht, so entsteht ganz natürlich etwas rhythmisches in der Rede., Wer vor Freude hüpft und springt, der wird, so lange die Empfindung währt, die einfach und immer einerlei ist, dieselben Sprünge oft wiederholen; und so wird es auch mit den Sätzen der Rede gehen. Ihr Ton und Abfall ist eine Wirkung der Empfindung und da er zugleich auf die Sinne wirkt, so unterhält und stärkt er auch wiederum die Empfindung selbst.

Hieraus lässt sich einigermaßen der Ursprung des Verses begreifen, der freilich im Anfang sehr roh gewesen, aber nachher durch die Kunst seine Formen bekommen hat. Man kann also sagen, dass der Vers dem Gedichte natürlich sei.

 Weil aber ein rythmischer Fall der Rede nur eine der verschiedenen Wirkungen der poetischen Laune ist und weil ohne den, durch die hinzugekommene Kunst, regelmäßig gemachten Vers, die Rede einen ungekünstelten Rythmus haben kann, so berechtiget uns der Mangel der regelmäßigen Versification noch nicht, einer die übrigen Kennzeichen des Gedichts habenden Rede, den Namen des Gedichts zu versagen. Doch ist unfehlbar in jeder Rede, die aus wirklicher dichterischer Laune entstanden, das Periodisch? ganz anders als in der gemeinen oder auch in der bloß beredten Rede. Also hat auch die so genannte poetische Prosa allemal etwas in ihren Abfällen, wodurch sie sich auszeichnet. Hieraus ist also klar, dass der regelmäßige Vers, nachdem die Poesie zur Kunst geworden, bei jedem Gedicht sich finden sollte, jedoch der Mangel desselben, wenn nur sonst der Charakter des Gedichts vorhanden ist, es von den Werken der Dichtkunst nicht ausschließe.

 Aber der Vers ist nicht das einzige, was zum Ton des Gedichts gehört. Wer in voller Empfindung spricht, sucht Wörter aus, deren Klang ihr angemessen ist und sie unterhält: die Freude liebt volle und leichte Töne, die Traurigkeit gedehnte und eindringende. Daher wird der poetischen Sprache ein gewisser lebendiger Ausdruck eigen, der an sich, wenn man auch den Sinn der Worte nicht verstühnde, die Gemütslage des Dichters zu erkennen gibt. Diesen Ausdruck muss das Gedicht haben, es sei in gebundener oder ungebundener Rede verfasst.

 Noch zeigt sich eine dritte Eigenschaft der poetischen Rede, die wir auch noch zum Ton derselben rechnen können. Weil der Dichter ganz mit seinem Gegenstand beschäftigt ist und nichts anders weder hört noch sieht, so ist ihm, wie einem Träumenden, jede Sache ganz gegenwärtig. Er macht zwischen dem Vergangenen und Zukünftigen, zwischen dem Gegenwärtigen und Abwesenden keinen Unterschied. Dieses gibt seiner Rede in Ansehung der Verbindungswör ter, in Ansehung der Anordnung und der grammatischen Zusammensetzung, ein ganz eigenes Gepräge, das sich besser empfinden als beschreiben lässt. Anstatt der vergangenen oder zukünftigen Zeit, braucht der Dichter oft die gegenwärtige. Bald lässt er die Verbindungswörter weg, bald aber braucht er andre, die zukünftigen Dinge als schon gegenwärtig vorstellen; jetzt, anstatt hierauf: er redet oft in der zweiten Person, wo die gemeine Rede die dritte braucht.

Dergleichen Abweichungen von dem gewöhnlichen Ausdruck, die dem poetischen Ton eigen sind, gehören notwendig zum Ausdruck des Gedichts.

Dieses sei von dem Charakter des Gedichts, in Ansehung des Tones der Rede, gesagt.3

 Zum poetischen Ausdruck aber gehören noch mehr Dinge als die nur den Ton betreffen. Die Figuren und Bilder sind eine sehr natürliche Wirkung der dichterischen Laune. Die mehr oder weniger erhitzte Einbildungskraft des Dichters gibt jedem Ding ein mehreres Leben und mehr Kraft als eine ruhigere oder bedächtlichere Gemütslage tut. Seine Hauptvorstellungen drückt der Dichter nie durch Wörter aus, die der Verstand erst in allgemeine Begriffe zu übersetzen hat. Seine Vorstellungen sind nicht allgemeine oder abgezogene, sondern einzelne Fälle und wirklich vorhandene Gegenstände. Er bekleidet alles mit Materie und gibt jeder Materie ihre Farben, ihre Figur und wo möglich, ihren Ton und andere fühlbare Eigenschaften. Daher entstehen die poetischen Farben4 und die poetischen Gemälde. Darin besteht, wie du Bos wohl erinnert hat, der Hauptcharakter des Gedichts. »Diese poetische Sprache, sagt der Kunstrichter, ist es, die eigentlich den Dichter ausmacht, nicht der Abschnitt und der Reim. Man kann, wie Horaz anmerkt, ein Dichter in ungebundener und ein gemeiner Redner in Versen sein – – Dieses ist aber der wichtigste und schwerste Teil der Dichtkunst, die Bilder zu erfinden, die das, was man sagen will, schön malen; den eigentlichen Ausdruck, der den Gedanken ein sinnliches Wesen gibt, in seiner Gewalt zu haben; dieses ists, wozu der Dichter ein göttliches Feuer nötig hat, nicht das Reimen – Nur ein zur Kunst geborener Kopf kann seine Verse durch Dichtung und Bilder beleben«5. Also zeigt uns die Sprache des Dichters überall einen Menschen, den sein Gegenstand so sehr eingenommen hat, dass er alles, was man sich sonst bloß vorstellt, körperlich vor sich sieht oder in seinem Gemüt als gegenwärtig fühlt und eben dieses Sehen und Fühlen auch in uns zu erwecken sucht. Daher entsteht ganz natürlich die Wirkung, dass wir durch das Gedicht in eben die Empfindungen gesetzt werden, die der Dichter hat. Diese Wirkung erfolgt, wenn gleich der Dichter sie nicht gesucht, sondern bloß für sich selbst gedichtet hat.

 Bis dahin ist angemerkt worden, wie das Gedicht durch Ton und Ausdruck sich von der gemeinen Rede unterscheide. Es hat aber auch seine ihm eigene Behandlung des Stoffs der Rede. Dieses verdient eine besondere Betrachtung.

 Jedes Gedicht ist eine empfindungsvolle oder doch lebhafte launige Rede, die durch einen, dem Dichter vorschwebenden, Gegenstand veranlasst worden, wobei er nichts anders zur Absicht hat oder zu haben scheint als das, was er fühlt, zu sagen; weil sein lebhaftes Gefühl ihm nicht zu schweigen verstattet. Hier zeigen sich zweierlei Fälle, die den Inhalt der Rede bestimmen. Entweder hängt der Dichter dem Gegenstand allein nach, betrachtet ihn von allen Seiten und drückt durch die Rede das aus, was er sieht; oder er hängt nicht so wohl dem Gegenstand nach, der ihn rührt als der Wirkung, die er davon empfindet. Im ersteren Fall mahlt der Dichter den Gegenstand, im anderen seine Empfindung darüber. Eine dritte Art des Stoffs zum Gedicht, kann nicht erdacht werden. Nun müssen wir das Verfahren des Dichters und wie er sich darin von anderen Menschen, die auch von seiner Materie reden würden, unterscheidet, in Betrachtung ziehen. Wie er sich im Ausdruck unterscheidet, ist schon angemerkt worden; also ist noch die ihm eigene Art, seinen Stoff zu behandeln, anzuzeigen; denn auch diese gibt dem Gedicht ihren eigenen Charakter.

 Wenn der Dichter sich mit Betrachtung des Gegenstandes abgibt, so ist seine Absicht bloß sich denselben so vorzustellen, wie er ihn nach seiner Gemütslage am lebhaftesten rührt. Er will weder, wie der Philosoph, ihn näher kennen lernen, noch wie der Geschichtschreiber ihn so beschreiben, dass andere einen richtigen Begriff davon bekommen; nicht wie der Redner so, dass er unser Urteil darüber zu lenken oder einzunehmen suchen sollte. Seine Einbildungskraft wirkt da mehr als der Beobachtungsgeist oder der Verstand. Auch ist dem Dichter nicht um die genaue Richtigkeit der Vorstellung zu tun: er bildet sich den Gegenstand so aus, wie er ihm am besten gefällt, eignet ihm alles zu, was er darin zu sehen wünscht, unbekümmert, ob die Sachen wirklich so seien; denn das Mögliche ist ihm eben so gut als das Wirkliche. Einiges vergrößert er, andere Dinge macht er kleiner, bis das Ganze so ist, wie er es am liebsten zu sehen wünscht. Darin handelt er wie jeder Mensch, der sich bei Vorstellung angenehmer Begebenheiten in süsse Träume der Phantasie einwiegen will. Alles wird nach seinem Gefallen angeordnet, hier werden Umstände weggelassen, dort andere hinzugesetzt; jede Person bekommt ihre Gestalt und ihr Wesen, so wie jedes sich nach seiner Einbildung schickt. So macht es auch der Dichter mit jedem Gegenstand, den er zum Stoff seines Gesangs gewählt hat. Die Teile des Gegenstandes, die ihn vorzüglich rühren, sucht er auch mit vorzüglicher Lebhaftigkeit zu schildern; er sucht alles hervor, was irgend dienen kann, sie sichtbar oder hörbar zu machen. Daher entstehen bisweilen im Gedichte die umständlichsten Beschreibungen, die bis auf die geringsten Kleinigkeiten gehen, weil solche Beschreibungen am geschicktesten sind, den Gegenständen in der Einbildungskraft ein wirkliches Leben zu geben.

Invenies etiam disjecti membra poëtæ.

Also muss jedem guten Gedichte, wenn ihm alle Kennzeichen, die es von der Sprache hat, benommen sind, etwas übrig bleiben, das den Dichter verrät. Was in der schlechtesten Übersetzung gar alles Poetische verliert, ist nie ein Gedicht gewesen, das alle dem Gedichte nötige Eigenschaften gehabt hat.

 Hält sich der Dichter nicht so wohl bei dem Gegenstand als bei seiner Empfindung auf; so hat er auch da seinen, ihn bezeichnenden Gang. Bisweilen sagt er uns deutlich, was ihn in die Laune oder Leidenschaft gesetzt hat, die er äussert; andremal müssen wirs erraten: aber in beiden Fällen unterscheidet sich seine Rede von der, die nicht poetisch ist, durch die Lebhaftigkeit der Empfindung oder der Laune. Man merkt gar bald, dass der Dichter sich nicht mehr besitzt; sein Vergnügen und sein Verdruss ist seiner Meister worden. Überlegung und Vernunft müssen der Empfindung weichen. Bald dräht er sich auf denselben Punkt der Empfindung herum, bald fällt er auf mancherlei Nebenvorstellungen, schweift schnell weit aus und macht uns, durch die anscheinende Unordnung in seinem Gemüte, stutzen. Diese Unordnung aber ist immer mit großer Lebhaftigkeit der Vorstellung begleitet, bringt starke und kühne Gedanken und sehr lebhafte Bilder hervor, die den Zuhörer in Verwunderung setzen.

 Dieses sind also die Hauptkennzeichen, wodurch sich das Gedicht von jeder anderen Rede unterscheidet. Da sie von mancherlei Art sind, jede Art aber viel Grade zulässt, so entsteht daher eine große Mannigfaltigkeit in der Form und Beschaffenheit der Gedichte, bei einerlei Inhalt.

 Mehr oder weniger Züge von diesem Charakter müssen sich notwendig in jedem Gedichte zeigen, das seinen Ursprung in einer poetischen Gemütslage des Dichters hat. Da aber manches Gedicht bloß aus Nachahmung entstanden und der Dichter sich durch Zwang in jene Gemütsfaßung setzt, den Ton und die Sprache der natürlichen Poesie nach Regeln bildet, so geschieht es auch, dass bisweilen Werke hervorkommen, die nur den äußerlichen Schein der Gedichte haben; dass ein vermeinter Dichter einer ganz gemeinen Rede, etwas von dem Kleide der Dichtkunst anzieht. Dadurch aber werden solche Werke deswegen nicht zur Würde der Gedichte erhoben; sie sind vielmehr Mißgebuhrten, die zu gar keinen natürlichen Gattungen der Rede können gerechnet werden. Es wird auch dem schlauesten Kopf selten gelingen, wenn er wirklich nicht in poetischer Fassung ist, seine Rede so zu verfertigen, dass sie alle natürlichen Kennzeichen des Gedichts an sich habe. Nur das Gedicht kann vollkommen werden, das von einem wirklich dichterischen Genie, in wahrer, nicht zum Schein angenommener, poetischer Laune entworfen und nach den Regeln der Kunst mit feinem Geschmack ausgearbeitet worden.

  Es erhellt aber aus diesen über den Ursprung und die natürlichen Kennzeichen des Gedichts gemachten Anmerkungen, dass das, was wir die poetische Laune genannt haben, die eigentliche Quelle der Dichtkunst sei. Soll das Gedicht einigen Wert haben, so muss die poetische Laune eine merkwürdige Veranlassung haben; denn schwache Gemüter von lebhafter Einbildungskraft, werden oft durch kindische Veranla sungen in Laune gesetzt; aber wer gibt sich die Mühe darauf zu achten? Hiernächst aber muss diese Laune durch Beredsamkeit unterstützt werden; denn wer das, was er denkt oder fühlt, nicht mit Leichtigkeit sagen kann, der kann wohl unser Aug, aber nie unser Ohr auf sich ziehen: also muss der Dichter auch ein beredter Mann sein, er muss Leichtigkeit und Reichtum des Ausdrucks haben. Endlich aber müssen beides Laune und Beredsamkeit von Verstand und Genie unterstützt werden. Die launige und fließende Rede muss Gedanken und Empfindungen vortragen, die etwas ungemeines, wichtiges und großes haben, die, wie Horaz sich ausdrückt, des so weit geöffneten Mundes und des vollen Tones würdig seien; digna tanto hiatu! Sonst wird der Dichter lächerlich; denn sein Ton und Ausdruck kündigt allemal etwas Merkwürdiges an. Dadurch gibt sich jeder Dichter für einen Mann aus, dem jedermann ein aufmerksames Ohr leihen soll als einem Menschen, der etwas Wichtiges vorzutragen hat. Darum sagt Horaz mit dem größten Recht, dass weder Götter noch Menschen dem Dichter erlauben dürfen, mittelmäßig zu sein; weil bei der großen Veranstaltung das Mittelmäßige höchst unerträglich wird. Betrügt er unsere Erwartung, indem er uns in seinem begeisterten Ton alltägliche Dinge sagt, so verdient er, dass man ihn von der Szene wegjage.

Dieses wird hinreichend sein, den wahren Charak ter des Gedichts fest zu setzen und jedem Menschen von einigem Nachdenken die Grundsätze an die Hand zu geben, nach welchen ein Gedicht zu beurteilen ist6. Man wird auch daraus abnehmen können, dass ein vollkommenes Gedicht nichts sehr gemeines, das man überall antrifft, sein könne; weil nur die ersten und besten Köpfe einer Nation alles haben können, was von einem wahren Dichter kann gefordert werden. Mit diesen Grundsätzen versehen, wird ein verständiger Mann von den Gedichten, die bei einem Volke, wo die schönen Künste zur Mode geworden, in so reichem Überflus vorhanden sind, leicht die wenigen guten aussuchen und die übrigen, wie niedriges Gesträuch, das um eine hohe Eiche herumsteht, aus dem Wege zu räumen und zum Verbrennen in Bündel zu fassen wissen.

 Man hat verschiedentlich versucht, die mancherlei Gattungen und Arten der Gedichte in ihre natürlichen Klassen und Abteilungen zu bringen, sich aber bis dahin noch nicht über den Grundsatz vereinigen können, der die Abzeichen jeder Art bestimmen soll. Von großer Wichtigkeit möchte auch die beste Einteilung der Dichtungsarten nicht sein, wiewohl man ihr auch ihren Nutzen nicht ganz absprechen kann.

 Einer der neueren französischen Kunstrichter7, der wegen seiner fließenden und artigen Schreibart in Deutschland vielleicht zu viel Eingang gefunden, stellt sich an als ob die Einteilung der Gedichte in ihre natürlichen Gattungen, die leichteste Sache von der Welt sei. Aber einer seiner deutschen Übersetzer hat ihn auf dieser Stelle in seiner Blöße gezeigt8.

 Die Alten haben sich hierüber eben nicht viel Mühe gegeben. So wie das Genie ihrer Dichter die verschiedenen Gattungen der Gedichte hervorgebracht hatte, gaben sie ihnen Namen, ohne sich viel darum zu bekümmern, die innerlichen Kennzeichen jeder Gattung zu bestimmen. Einige Arten erhielten ihre Namen bloß von der äußeren Form, andere von dem Inhalt. Doch ist Aristoteles, nach seiner Art, hierüber subtil und methodisch, obgleich seine Einteilung zu nichts dienen kann. Da er das Wesen des Gedichts in der Nachahmung setzt, so bestimmt er die Gattungen desselben aus der Beschaffenheit der Nachahmung und bekommt dreierlei Gattungen. Die erste wird durch die Instrumente der Nachahmung bestimmt; die andre durch den Gegenstand der Nachahmung und die dritte durch die Art der Nachahmung.

 Die Instrumente der Nachahmung sind die Sprache, die Harmonie und der Rhythmus und der Philosoph bestimmt verschiedene Arten des Gedichts dadurch, dass sie eines oder das andre oder mehrere Instrumente der Nachahmung brauchen. Die Epopöe macht nach seinen Begriffen eine besondere Gattung aus, weil sie bloß die Sprache zum Instrument der Nachah mung braucht. Die lyrische Art wird dadurch bezeichnet, dass sie Sprache, Rhythmus und Harmonie braucht u. s. w. Es ist aber hieraus schon hinlänglich abzunehmen, dass aus diesen Subtilitäten wenig Nutzen zu ziehen sei.

 Vielleicht könnte man eine fruchtbarere Einteilung der Gedichte in die Hauptgattungen, aus den verschiedenen Graden der dichterischen Laune hernehmen und dann die untern Arten aus dem Zufälligen der Materie oder der Form der Gedichte. Man würde zum Beispiel finden, dass das lyrische Gedicht allemal ein von gedachter Laune, sie sei sanft oder heftig, ganz durchdrungenes Gemüt voraussetzt und dass es durchaus in einer Art von Schwermerei müsse gemacht werden. Die Heftigkeit der Schwermerei, würde ein Kennzeichen der hohen Ode, das Sanfte derselben, der Charakter des Liedes sein können, u. s. w. Eine abwechselnde Fassung, die durch alle Grade durch abgeändert wird, die meiste Zeit aber nur mit mittelmäßiger Stärke anhält, macht den Charakter der hohen Epopöe und der Tragödie aus. Allein, wie gesagt, es verlohnet sich vielleicht der Mühe nicht, dergleichen Einteilung zu suchen.

 Die Hauptgattungen der Gedichte sind die lyrischen, die dramatischen, die epischen und die lehrenden oder unterrichtenden Gedichte. Da aber jede Gattung wieder Arten von sehr verschiedenem Charakter unter sich begreift, so kann man in Bezeichnung der Hauptgattungen eben nicht sehr methodisch verfahren. Wir haben jede besondere Art unter den gewöhnlichen Benennungen derselben weiter einzuteilen und ihren Charakter, so gut als sich tun ließe, anzugeben versucht.9

 

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1 Arist. Poet.

2 Poema est sensitiva oratio perfecta. vid Baumgart. Dissertatio de Poesi et Poemate.

3 S. Ton.

4 S. Farben.

5 Reflexions Kritiques sur la Poesie et sur la Peinture. T. I. Sect. XXXIII.

6 S. Dichter, Dichtkunst, Gedanken.

7 Batteux.

8 S. Schlegels Abhandlung v. der Einteilung der Poesie in dem II Th. seiner Übersetzung des Batteux.

9 S. Lyrisch; Heldengedicht; Lehrgedicht u.s.w.

 


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