Von Tolstoi
»Einmal sah ich ihn, wie ihn vielleicht keiner gesehen hat. Ich ging grade die Küste entlang zu ihm nach Gaspra, und hinter Jussupows Anwesen sah ich am Ufer zwischen den Steinen seine hagere, eckige Gestalt in einem grauen zerknitterten abgetragenen Rock und einem zerknüllten Hut. Er saß, den Kopf auf die Hände gelegt, der Wind blies ihm die Silberhaare seines Barts durch die Finger, er sah in die Ferne auf das Meer hinaus … Er erschien mir wie ein uralter, lebendig gewordener Stein, der Anfang und Ausgang aller Dinge weiß … «
So zu lesen in den ›Erinnerungen an Tolstoi‹ von Maxim Gorki. (Verlag Der neue Merkur zu München.) Über Tolstoi zu lesen, empfiehlt sich im allgemeinen nicht – die Leute lesen aus ihm heraus und in ihn hinein, und die neuem protestantischen Deutungsversuche, die ihn maßvoll und mit aller zuständigen Bewunderung zu beschreiben suchen, sagen auch nicht jedem zu. Eigentlich gibt es zum Thema Tolstoi nur zweierlei: die Werke und die Porträts.
Aber diese paar Seiten Gespräche machen eine Ausnahme. Gorki ist kein Eckermann, und doch ist er zurückhaltend wie der und dabei tapferer und selbständig und bedeutungsvoller. Er liegt nicht platt auf dem Bauch – er widerspricht auch. Aber es handelt sich nicht um den umstrittenen Gorki, den der leider ins Bürgerliche gerutschte Mereschkowski, nun persönlich in eine poetisch gern verherrlichte Renaissance gerissen, für einen Lumpen erklärt hat. Es handelt sich um Tolstoi, dieses letzte Wunder einer kleinen Zeit.
Er spricht – nicht immer allzu Belangreiches, aber es ist doch der, der die ›Volkserzählungen‹ geschrieben hat, jene letzten Beispiele einer Darstellung voll von Wundem. Er erzählt von den Bauern, von der russischen Sprache – Gott allein weiß, um was alles uns die übrigens guten Übersetzungen bringen –, es wird von ihm erzählt, wie gern er Karten spielte, und wie
er doch bei allen Lebensverrichtungen der letzten Jahre der Erde etwas entrückt erschien, schon nicht mehr ganz dazu gehörte und darüber stand. Aber das hatte er ja, so sehr er mit ihr verknüpft gewesen war, eigentlich sein ganzes Leben hindurch getan. Denn um so weise zu sein, gemäßigte Bewundrer, muß man, von unten an, tierisch, menschlich, übermenschlich gewesen sein. Dann erst kam der Gott.
Schade, dass Arthur Holitscher ihn nicht mehr gesehen hat. Dieser größte deutsche Reisende mit den Fotografieraugen, der Landschaft, Gesellschaftsbau und Menschen blitzartig einfängt und sie scharf kopiert, so scharf, dass man Porträt und Fotografen nicht mehr vergißt – er hätte uns vielleicht ein Bild, das Bild Tolstoi gegeben. So bleibt dieses wertvolle Heft Gorkis. (Wer das Rußland Tolstois noch einmal vor Augen geführt haben will, lese Karl Nötzel.)
Wer aber sehen will, wie der Alte mit dem Bart einmal ausgesehen hat, als er jung war, als er dreiundzwanzig Jahre alt war, der schlage Rollands Tolstoi-Biographie auf, die – ein wenig phraseologisch, ein wenig pathetisch, wo man Aufschlüsse erwartet – bei Rütten & Loening in Frankfurt am Main erschienen ist. Er sah aus … Jeder deutsche Polizeipräsident einer mittelgroßen Stadt kniffe die Augenhöhle um das Monokel fester und verfügte einen Haftbefehl. Er hatte aufgeworfene Lippen, ein Bärtchen, kleine Augen, eine breite Nase und eine merkwürdige Stirn. Das war der, der später als alter Mann nach der Frage an Tschechow, ob der viel gehurt habe, von sich sagte: »Ich war ein großer … «
Ob seine Lehre die rechte war, wage ich nicht zu beurteilen, denn ich habe keinen Lehrstuhl der modernen Literatur an einer kaiserlich republikanischen Universität inne, die sich mehr mit Technischer Nothilfe und Studentenverfassungen beschäftigt als mit solchen faulen landfremden Elementen. Aber dass die Lehre göttlich war und mythenhaft und eine letzte Glaubensoffenbarung: das scheint mir gewiß.
Peter Panter
Die Weltbühne, 04.05.1922, Nr. 18, S. 463.