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Brunner im Amt

Da muß man hineingetreten sein! Dahin muß man seine Kinder geführt haben! Das gibt es. Nämlich die Welt, die sich in dem vollständigen Bericht des Reigen-Prozesses auftut: ›Der Kampf um den Reigen‹ (im Verlag Ernst Rowohlt zu Berlin). Das Buch ist nicht ganz billig, aber kein Kuriositätensammler sollte das versäumen. Ich garantiere ihm einige wirklich heitere Stunden.

Der Tatbestand ist ja bekannt. In einem berliner Theater wird ein Stück aufgeführt, das manchem Menschen als ›frei‹ erscheint. Wems nicht paßt, der soll nicht hineingehen. Aber statt dass die Teutschen sich um die Schuld der Kapitalisten an den Tuberkulose-Wohnungen ihrer eignen Landsleute und um die kranken Kinder kümmern, die da zugrunde gehen, nehmen sie einen Anstoß, nach dem sie kein Mensch gefragt hat, unser Freund Brunner immer vorneweg, und wollen andern vorschreiben, welche Theaterstücke sie sich anzusehen haben und welche nicht.

Zunächst: aus den Zeitungsberichten ging gar nicht mit genügender Klarheit hervor, eine wie bestellte Arbeit das gewesen ist, und wie Besteller und Bestellte vor Gericht gekniffen haben. Sie erinnerten sich nicht … sie konnten sich nicht mehr besinnen … ob das Freikarten des Polizeipräsidiums gewesen seien, wußten sie nicht … Kurz: völkisch. Das ist aber nichts gegen die Zeugen der Staatsanwaltschaft.

Daß so etwas lebt, hält man einfach nicht für möglich. Da ist ein ehrsamer Mann der spricht immer von den ›Bettstellen‹, die in dem Stück vorkämen, und man kann sich seine eigne vorstellen. (Aber man mag es nicht.) Ohne Ansehen der Person und der Sache werden da Urteile abgegeben, die alle, alle von Wilhelm Busch sein könnten. (Man muß übrigens einmal nachlesen, wie dieser gute Deutsche zu solchen Dingen stand. Armer Brunner!) Da sind sie alle: geschwellte Männerbrüste, eitle Schwatzhaftigkeit, Wohltätigkeitsfrauen, deren guter Wille nur noch von ihrer völligen Weltfremdheit übertroffen wird, und Brunner …

Nein, das muß erfunden sein. Das kann nicht wahr sein. Da muß sich der Stenograph, der treffliche Herr Georg Elgard, einen Witz erlaubt haben. Zuruf des Stenographen: »So wahr mir Gott helfe!« Ja, dann …

Dann stehe ich nicht an, hier zu erklären: Es ist eine Schmach und eine Schande, dass sich das Berliner Polizeipräsidium einen so ahnungslosen, einen so ungebildeten, einen so völlig unfähigen Sachverständigen hält wie diesen Herrn Brunner. Es ist völlig unmöglich, dass sich etwa die Abteilung für das Kraftfahrwesen einen Fachmann aussucht, der so ahnungslos den Dingen seines Faches gegenübersteht wie dieser Professor aus dem Wohlfahrtsministerium. Solch eine Abfuhr, wie sie der Mensch durch den Professor Witkowski in diesem Prozeß bekommen hat, war noch nicht da.

Und ich würde auf diese ganze Geschichte gar nicht zurückkommen, wenn das Ungeheuerliche nicht Wahrheit wäre:

Nach einer solchen Niederlage, nach einer solchen Blamage, nach einer solchen Niederbügelung aller pathetisch verkündeten Grundsätze bleibt dieser Brunner im Amt! Das darf also weitermachen, darf weiterhin ›Gutachten‹ ausarbeiten, auch wenn darin noch das letzte Komma von einer Philistrosität zeugt, die jener erfundene Biedermeier von Eichrodt niemals zu erträumen gewagt hat. Welch ein Kamillentee-August! Und ich käme nicht auf das Buch zurück (das allerdings ein Kulturdokument ist, mit diesen Zeugen, diesem Sachverständigen und dem so anständigen und sachlichen Vorsitzenden) – wenn nicht die Schriftsteller-Verbände aller Arten sich dieses Stück Rotstift weiterhin gefallen ließen, einen Mann, der mit Kunst, Literatur und allen Musen ebensoviel zu tun hat wie mit wirklicher Wissenschaft: nämlich gar nichts. Er darf weiterhin amtieren.

Er darf es nicht. Wenn ihr euch den noch gefallen laßt, wenn die Polizei und das Wohlfahrtsministerium einen solchen unwissenden und ungeeigneten Mann noch weiter beschäftigen: dann verdient ihrs nicht besser.

Ignaz Wrobel
Die Weltbühne, 07.09.1922, Nr. 36, S. 226.