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Taschenpolizei

»Jehn Se ausenanda!
Bleim Se hier nich stehn!
Sonst muß ick mit Ihnen
Nach de Wache jehn!«

Hans Hyan »Schutzmannslied«

Unter diesem merkwürdigen Titel »Taschenpolizei« ist ein kleines Büchlein erschienen, das dem Schutzmann, dem grünen wie dem blauen, eine Hilfe sein soll, wie er sich bei allen Amtshandlungen zu benehmen hat.

Wenn man die Praktiken dieser Polizei kennt – und wer kennt sie als Gewerbetreibender, als Privatmann, als Mieter oder Arbeitnehmer nicht! –, dann macht es einigen Spaß, in dem Bändchen zu blättern. Da, wo die Anweisungen gut sind, muß man lächeln – weil in der Praxis keine befolgt wird; und da, wo sie nichts taugen … Aber wir wollen selbst sehen.

»Taschenpolizei. Hilfsmittel beim ersten Einschreiten und Wegweiser für die Behandlung der am häufigsten vorkommenden Fälle im Dienste der Exekutivpolizei. Von Heinz Eiben, Polizeimajor. (Kameradschaft, Verlagsgesellschaft, Berlin 1921.)« Es geht los:

Zunächst fällt auf, wie sich die Polizei in allen Fällen, wenn sie sich rechtzeitig nicht mehr zu helfen weiß, auf das Allgemeine Preußische Landrecht von 1794 stützt – und zwar auf jene berüchtigte Ziffer 10, II, 17, in der die Aufgaben der Polizei in weitester, unverbindlichster Form geschildert werden. Da steht ungefähr, dass sie für Ruhe und Ordnung zu sorgen habe – wir wissen, wie sie es tut, und wir wissen auch, wer es tut. Mit diesem Gesetzesparagraphen, dessen Geist so alt ist wie ganz Preußen, läßt sich alles machen. Zum Beispiel begründet damit die Polizei ihr vermeintliches Recht, jedermann auf ihre Bureaus zu zitieren. »Die Pflicht, sich den Polizeibehörden zur Vernehmung zu gestellen«, sagt das Büchlein, »gehört zu denen, welche jeder Untertan im öffentlichen Interesse unentgeltlich erfüllen muß.« Erschienen ist das Buch 1921 – der im Dienst befindliche republikanische Polizeimajor kennt also noch Untertanen. Und behandelt sie wohl auch dementsprechend. Nun ist er zunächst rein formal im Unrecht: die Lehrbücher, Kommentare und Reichsgerichtsentscheidungen sprechen übereinstimmend immer nur von einem Vernehmungsrecht der Polizei, soweit sie Organ der Staatsanwaltschaft ist – wenn sie in eigener Sache Auskunft erheischt, ist es sehr bestritten, ob sie ohne weiteres vorladen darf. Ich möchte das verneinen. Es ist leider viel zuwenig bekannt, dass man nur unter ganz gewissen Umständen der Vorladung der Polizei überhaupt Folge zu leisten braucht – dass aber ein Aussagezwang niemals besteht. Von diesem Recht jedes Deutschen, seine Aussage in allen Angelegenheiten vor der Polizei zu verweigern, steht in dem Büchlein nichts. Es ist wohl der Autorität nicht zuträglich.

Ähnlich liegen die Dinge bei Verhaftungen. Wir wissen ja, wie leicht die geltende Polizeipraxis mit dem »Einspunnen« bei der Hand ist: rechtlich begründet ist das alles kaum. Wenn man in diesem Polizeibüchlein die verwickelten Erwägungen durchliest, die so ein Polizist anstellen soll, bevor er einen verhaftet, dann muß man sagen: Die Theorie ist zu kompliziert, und die Praxis ist zu brutal. Diese feinen Unterschiede zwischen Verhaftung, Festnahme, Inverwahrungnahme und ähnlichem dummen Zeug bemänteln nicht, dass in vielen Fällen falsch vorgegangen wird und daß der Deutsche seine verfassungsmäßig garantierte Freiheit der Person eben nur in der Verfassung besitzt. Der kindliche Unfug, der in Deutschland mit »Papieren«, »Ausweisen«, »Legitimationen« und ähnlichem getrieben wird, hört nur da auf, wo eine Legitimation sehr nötig wäre: bei der Polizei selbst. Das Büchlein veröffentlicht eine Erkenntnis, nach der allenthalben gehandelt wird: »Pflicht der Polizeibeamten zur Legitimation. Die Nichtvorzeigung der Erkennungsmarke ist selbst dann unerheblich, wenn die Vorzeigung durch besondere Instruktion vorgeschrieben ist. Es genügt die Nennung des Namens und Amtscharakters.« Wonach denn also jeder betrunkene Korpsstudent sich als Kriminalbeamter ausgeben dürfte, ohne dass es dem Passanten möglich ist, eine ausreichende Legitimation zu erzwingen. Es sind ja nur Untertanen.

Die Polizei hat überhaupt Rechte, die gleich nach denen des lieben Gottes kommen. Wenn die Theaterzensur fortfällt, wenn die Gerichte nicht so funktionieren, wie Brunner es gern möchte: die Polizei verbietet auch ohne richterliche Erkenntnis – immer nach 10, II, 17 – nach dem Allgemeinen Preußischen Landrecht – »im voraus solche Theateraufführungen, die den polizeilichen Interessen zuwiderlaufen«. Wonach zu richten. Ja – »die Polizei kann auch einschreiten und die Fortsetzung eines nach ihrer Ansicht nicht genehmigten, aber genehmigungspflichtigen Betriebes verhindern, wo durch den Strafrichter aus der entgegengesetzten Auffassung heraus Freisprechung erfolgt ist«. Das heißt: die Gerichte existieren für die Polizei nicht. Wie denn überhaupt in Preußen das Verwaltungsrecht so eine Art Gesellschaftsspiel junger Referendare und verkalkter Landgerichtsräte zu sein scheint, für die Praxis hat es keine allzu große Geltung. Bei einer theoretischen Auseinandersetzung über die Zulässigkeit einer Verhaftung spricht das Lehrbuch: »Brauch und Gewohnheit sowohl, als auch die ausführende Gewalt (der Regierungswille) folgen in Fällen dieser Art aber nicht dem förmlichen Recht, sondern geben den Ausführungsorganen die Befugnis, ja, machen es ihnen zur Pflicht, den Umständen gemäß zu handeln und das Zweckmäßige dem formell Rechtlichen überzuordnen.« Das Formell-Rechtliche heißt: U-Boot-Boldt; das Zweckmäßige: Sylt.

Von welchem Kommißgeist diese schlecht ausgebildete Polizei durchdrungen ist – gegen den Willen vieler ihrer Angehöriger, aber immer getrieben von den politisch interessierten Vorgesetzten –, zeigen zahllose Einzelheiten: »Unzucht«, lehrt das Buch, »ist jede außereheliche Geschlechtsvereinigung.« Das ist objektiv und kulturell falsch. Das ist sie eben nicht. Aber »regiert« wird freilich nach diesem unsittlichen Satz: man denke nur an die Schnüffeleien in den Hotels, an die polizeiliche Auslegung des Kuppeleiparagraphen, an die Nichtachtung der wirtschaftlichen und sittlichen Anschauungen eines Volkes, das gut genug war, sich die Knochen in Schützengräben zerschießen zu lassen, aber nicht reif genug, darüber zu bestimmen, was Unzucht ist und was nicht, und das es sich von einer kleinbürgerlich gerichteten Beamtenklasse vorschreiben lassen soll. – Daß das »Meldewesen« zu den »wichtigsten Zweigen der Polizei« gehört, wissen wir alle aus zahllosen überflüssigen Belästigungen. Wir wissen es aber auch aus dem mangelnden Straßendienst der Polizei. »Ein Kind ist ins Wasser gefallen?« – »Wir bedauern, die Beamten haben keine Zeit, sie machen Bürodienst.« – Und aus dem Polizeiparadies gibt es nur eine Rettung: Hänge dich auf! Denn höre, Untertan: »Der Selbstmord fällt nicht unter das Strafgesetzbuch.« Gottseidank.

Die politischen Abschnitte des Büchleins sind ebenso interessant wie verschwiegen: in dem Kapitel »Streik« ist nichts davon zu finden, wie die Polizei in Wirklichkeit grundsätzlich gegen streikende Arbeiter Stellung nimmt. Und auch von dem famosen, immer noch geltenden Heineschen Schießerlaß steht nichts in dem Werk, das sorgfältig aufzählt, welche Voraussetzungen erforderlich sind, um einen Leierkastenmann wegen unbefugter Ausübung seines Gewerbes zu verhaften, und welch schwierige Erwägungen der Polizeibeamte dazu anzustellen hat. Es sagt aber nichts darüber, dass jeder ehemalige Unteroffizier in grüner Uniform berechtigt ist, ein Todesurteil zu vollstrecken. Ist ein Polizeibeamter lässig in der Aufsicht seines Gefangenen, ist er zu faul, dem Entsprungenen nachzulaufen, befürchtet er eine Bestrafung seiner Lüderlichkeit: dann schießt er. Und blutend liegt auf dem Pflaster ein Dieb, der vom Gericht vielleicht seine vierzehn Tage bekommen hätte. Auf der Flucht erschossen …

Das Büchlein ist ein Kulturdokument. Die juristisch belanglosen Verordnungen in irgendeinem Ministerialblatt gelten ihm für bindendes Recht, es hält an dem alten »Obrigkeitsstaate« mit »Untertanen« fest – und das einzig Amüsante ist, dass der Abschnitt »Titel« zwischen »Tollwut« und »Tingeltangel« steht. –

Der preußische Minister Severing hat ein weites Feld. Es soll hier nächstens ausgeführt werden, wie Servilität und Sadismus sich stets ergänzen – und das ist die Theorie. Die Praxis aber gibt dem Minister viele Gelegenheiten, mit der widerwärtigen preußischen Polizeiauffassung aufzuräumen, die dem Beamten alle und dem Publikum keine Rechte zuweist; die durch ein falsches Kameradschaftsgefühl jeden Übeltäter, wenn er in Uniform ist, deckt – siehe die schwarze Hundertschaft – und die unsere Polizeiwachen zu dem gemacht hat, was sie sind: zu Überbleibseln des preußischen Kasernenhofes. Der preußische Subalternbeamte ist in vielen Fällen unsachlich, grob und größenwahnsinnig. Er fühlt sich vor dem Dienstmädchen und duckt sich vor der Offiziersuniform. Heute noch.

Herr Severing sollte gewisse Elemente in der Polizei ins Auge fassen und zu unser aller Wohle sagen:

»Jehn Se ausenanda –!«

Ignaz Wrobel
Welt am Montag, 28.11.1921, Nr. 48, S. 2.