Der gestohlene Briefträger
Dienstag den 9. August 1921 erschien in der Morgenausgabe des Berliner Lokalanzeigers folgender Scherz:
Gespräch auf der Treppe
Er ist das genaue Gegenstück einer Reckengestalt, mein Briefträger. Knapp Mittelgröße; mager; möglicherweise zäh, aber eher ungesund aussehend. Hin und wieder habe ich kleine Gespräche mit ihm gehabt. Belanglose. Was man eben in solchen Fällen so sagt.
Heute ging er vor mir die Treppe hinunter. Er trug eine der Hitze sehr entsprechende Gewandung, die sich beim näheren Hinblicken als eine der Unteroffizierstressen beraubte Drillichlitewka erwies, wie sie seinerzeit während des Krieges meinen Muschkotenneid erregten.
»Na, wohl auch vom Militär?«
»Jawohl, ich habe noch eine andere. Und noch eine ganze Uniform.«
»Sehen Sie, soviel habe ich von den Preußen nicht mitgebracht. Aber Sie waren wohl bis zum Schluß dabei?«
»Von Anfang bis zu Ende draußen. Ich habe das Eiserne Kreuz I. und II. Klasse und die König-August-Medaille. Wissen Sie, das hätte ich mir selbst gar nicht alles zugetraut.«
Ein Abschiednicken. Er verschwand in einem neuen Hauseingang. – –
Das war das ganze Gespräch, der ganze Vorgang. Irgendwie hat es mich aufgerichtet.
Da ist nun dieser kleine magere Sachse, dem kein Mensch große Soldatentaten zutrauen würde. Den man kaum als felddienstfähig nähme. Seit eineinhalb Jahren oder noch länger wieder als Briefträger bei meinem Postamt tätig. Dies und das haben wir schon miteinander gesprochen – nie hat er etwas von seinem Felderleben gesprochen. Jetzt, da der Zufall eine unmittelbare Frage veranlaßte, erfahre ich auf einmal, dass er einer von denen ist, durch die das deutsche Volk vier Jahre lang der Welt von Feinden standhalten konnte. Eisernes I. und II. Klasse und die sächsische August-Medaille!
Und wie er das gesagt hat, fürchtete er schon halb, für einen Renommisten genommen zu werden, und fügt diesen Satz hinzu: »Das hätte ich mir selbst alles gar nicht zugetraut.«
Und nun sich sagen: dieser Briefträger hier, dieser einfach seine Pflicht tuende, stille und einfache Mann aus dem Volke ist ja keine Sondererscheinung, ist ein Typus. Täglich gehen wir an Tausenden und Tausenden vorüber, die ebenso wie dieser mein Briefträger die selbstverständliche Pflicht ihres Heldentums erfüllt haben – und jetzt davon schweigen. Die kaum je das schwarz-silberne Band, nie außer an höchsten Festtagen ihres Lebens das silbern geränderte dunkle Kreuz auf der Brust tragen. Wir gehen an ihnen vorbei, ohne um sie zu wissen, und sie sind die letzten, uns in Erinnerung zu rufen, was sie litten und taten.
An Tausenden solcher gehen wir täglich vorbei, zu Hunderttausenden gibt es sie unter uns. Und ein Volk, in dem solche Menschen das gewöhnliche sind, sollte um seine Zukunft gebracht werden können?
Irgendwie hat es mich erhoben, das kurze Gespräch mit meinem Briefträger.
Künftighin aber werde ich vor dem Manne meinen Hut sehr tief abnehmen.
Gegen diese kleine Arbeit ist weiter nichts zu sagen, als dass sie das äußerste Maß an Volksverdummung darstellt; dass sie – selbstverständlich – erlogen ist; dass dem Briefträger nicht damit geholfen ist, dass irgendein kleiner Zeilenschinder vor ihm den Deckel abnimmt – und dass wir alle wissen, wie das Stückchen Eisenblech, von dem der da soviel Wesens macht, im Kriege erworben worden ist. Aber sonst ist dies Feuilleton sehr schön.
Berliner Zeitungen brauchen einen Tag, ehe sie nach Königsberg kommen, dann muß man sie lesen, das Gelesene verstanden haben, dabei kommt man auf allerlei Gedanken, man schreibt vielleicht selbst ein bißchen … Darüber vergehen Tage.
Sonntag den 21. August 1921 stand in der Ostpreußischen Zeitung dieses:
Königsberger Nachrichten
Königsberg, den 21. August 1921
Das kleine Band
Bisweilen treffe ich auf dem Treppenflur oder vor dem Hause unseren Hausmann oder – um mich verständlicher auszudrücken – unsern »Portier«. Er ist immer tätig und beschäftigt, dabei freundlich, höflich und im übrigen völlig unscheinbar. Schlägt keinen Krach, weist die Kinder, die unerklärlicherweise gerade nach dem Mittagessen, wenn manch einer etwas übernippt, ihren Lärm- und Spielbetrieb zu entwickeln pflegen, in aller Güte zurecht – ist kurz gesagt: das Musterexemplar eines Hausmannes. Diesen schmächtigen und bescheidenen Menschen habe ich schon lange in mein Herz geschlossen, und oft nahm ich mir vor, ihm außer dem üblichen Tagesgruß etwas Gutes zu sagen und mit ihm zu plaudern. Aber es kam nie dazu. Er war durchaus nicht redselig und aufdringlich. Und unnützen Worten schien er aus dem Wege gehen zu wollen.
Letztens aber traf ich ihn – der Tag war recht heiß – in einem leichten Drillichanzug, dem man noch die feldgraue Urfarbe ansehen konnte. Das erschien mir sympathisch und erinnerte mich an die Zeit, wo ich in Stunden, da man wenig Wert auf schnittige Bügelfalten zu legen pflegte, dasselbe Kleid trug. »Na«, meinte ich, »auch noch eine Erbschaft von den Preußen?« – »Ja, ja«, sagte er gemütlich und wandte sich mir zu. Da bemerkte ich ein kleines Stückchen jenes schwarzweißen Bandes an einem Knopfloch. Arg mitgenommen und keineswegs sauber. »Ach, das E. K. haben Sie auch?« – »Herrje, das hab' ich ganz vergessen abzunehmen. Es ist so heiß und da hab' ich den Anzug gleich so angezogen.« – »Ist Ihnen denn dies Bändchen so wenig wert?« forschte ich. – »Oh, sehr sogar, aber weshalb soll das jeder wissen? Das andere trag' ich nur zu Hause, wenn es meine Kinder sehen wollen.« – »Das andere? Also die erste Klasse haben Sie sich auch geholt? Wobei denn?« – »Ach Gott, ich weiß auch nicht«, und er wurde sichtlich verlegen, »damals in der Champagne bei Ripont, da … « und er brach ab. »Das ist nun lange her. Heut', wenn ich's trage, glaub' ich, ich werde ausgelacht. Es hat ja doch nichts genützt.« Und mit flüchtigem Gruß war er treppab.
Das war alles. Aber irgendwie hatten mich diese Worte gepackt. Also dieser stille scheue Mensch ist einer von jenen, mit denen man im Trichterfeld lag. Er sieht aus, als ob er keiner Mücke ein Leid antun könnte, und hat das Eiserne Kreuz erster und zweiter. Er ist also – das Wort erschien mir mit einemmal gar nicht abgegriffen – ein Held; und wenn man ihn nach seinen Taten fragt, wird er verlegen und sagt, er wüßte nicht, was er getan. Und er hielt sich schon für einen Aufschneider, weil er überhaupt davon gesprochen. Und weiter: an solchen Leuten, die ohne prunkende Worte ihre Tagespflicht tun, gehen wir auf der Straße vorbei, ohne es zu merken. Und sie sprechen nicht davon. Ist es nicht schön zu wissen, dass Tausende und Tausende ihr kleines schlichtes Ordensband zu Hause liegen haben und nie damit protzen, und es nur an hohen Feiertagen tragen – dieses kleine Band, über das manche glaubten spotten zu dürfen. Und sie denken daran und halten es in Ehren und – glauben.
Dutz.
Das wird hier nicht abgedruckt, weil ein literarischer Diebstahl vorliegt. Dies wird hier abgedruckt, um einmal klar zu zeigen, wie man nationalistische Propaganda macht. Aus dem nicht existierenden Briefträger ist ein Portier geworden, dens nicht gibt – und wenn der »Dutz-Freund« Glück hat, dann stiehlt ihm ein besonders betriebsames Blättechen in Angerburg oder Allenstein auch den Portier noch einmal und wandelt ihn in einen Landarbeiter um. Dem Volke muß das Eiserne Kreuz erhalten bleiben.
Man soll aber daraus lernen.
… Alle die rührenden Geschichten vom braven Kaiser Wilhelm, vom greisen Hindenburg (der sich nicht geschämt hat, erst in diesen Tagen dem toten Erzberger ins Grab nachzuspucken) –, die kleinen lieben Fabeln von dem ollen ehrlichen Landsturmmann, von dem biedern ostpreußischen Muschkoten, der die Knochen zusammenreißt und selig ist, wenn ihm der indianerbunte General nur auf die Schulter tippt –, all das ist so verlogenes Zeug, wie die kleine Geschichte da oben, die – in diesem Falle nachweisbar – gestohlen ist.
Damit wird eine Nation betrogen. Mit solchen Mätzchen und Anekdoten sind heute noch unsere Lesebücher angefüllt, das lesen Schulkinder und glauben es. Weil sie nie die Wahrheit gesehen haben: nie die Telefongenerale in den Stäben bei guter Verpflegung, nie die »Kerls« in den Ackergräben bei klitschigem Brot und Heldenfett, nie die Mache in den Zeitungen, nie die Schiebungen auf den Intendanturen, nie das Kujonieren von erwachsenen Menschen durch grüne Jungens, die gar keinen Verstand, aber zwei Achselstücke hatten …
Ein Arbeiter, der in die Welt paßt, ein zielbewußter Republikaner – sie alle werden solche Zeitungen wie die Ostpreußische in kleine viereckige Stücke schneiden, fein säuberlich auf einen Nagel hängen und … Aber diese Zeitung wird auch von Frauen gelesen.
Ignaz Wrobel
Der Montag im Osten, 10.10.1921.