Die Erdolchten
Seliger ist zu beschreiben Melusinam, denn zu beschreiben Reuterey und Artillerey.
Paracelsus
Während der Einquartierung unterhielten sich einmal einige preußische Offiziere in einem Weinhaus Weimars über die Wohnungen, die sie gefunden hatten. Ein alter, dickbäuchiger Major sagte: »Ich stehe da bei einem gewissen Goethe oder Goethe – weiß der Teufel, wie der Kerl heißt.« Man machte ihn aufmerksam, es sei der berühmte Dichter Goethe, wo er stehe, da antwortete er: »Kann sein, jaja, nunu, das kann wohl sein, ich habe dem Kerl auf den Zahn gefühlt, und er scheint mir Mucken im Kopfe zu haben.«
Jakob Wassermann nach Vehse
Die ›Weltbühne‹ ist eines der ersten Blätter gewesen, die den deutschen Offiziersgeist, diese Mischung aus Brutalität, Stumpfsinn, Überhebung und Mangel an Zivilcourage, systematisch bekämpft haben. Sie hat sich dabei nicht durch die beschwörenden Gesten demokratischer Bürgersleute beirren lassen: es sei doch alles ›nicht so schlimm gewesen‹, man dürfe nicht ›verallgemeinern‹, und wie diese sanften Weisen eines in seinem Schlummer gestörten Nachtmützenträgers sonst noch heißen mögen. Die bis zum Schwachsinn wiederholte Phrase von der ›Verallgemeinerung‹ basiert auf einer soziologischen Erkenntnislosigkeit, wie sie bei lobenden Anmerkungen über eine Kollektivität selten zu treffen ist.
Werturteile über eine Gruppe sind, vom einzelnen Individuum aus gesehen, niemals ganz scharf, weil besonders heute das Individuum nicht nur Produkt und Angehöriger einer einzelnen Gruppe ist. Das Urteil wird immer nur insoweit richtig sein, als das Individuum sich der Gruppe zur Verfügung gestellt hat: also immer nur für eine Spanne Zeit in seinem Leben oder für eine Quantität psychischer Energie oder für einen Teilbezirk seines Denkens. Es gibt wohl kaum einen Menschen, der nur und ausschließlich Offizier wäre; er ist auch noch Familienvater, Schachfreund, Angehöriger einer Religionssekte und Mitglied einer Finanzgenossenschaft. Das Urteil über seinen Stand muß ihn ungerecht dünken, weil er es instinktiv auf seine ganze Persönlichkeit statt auf den Gruppenbestandteil bezieht.
Der Geist des deutschen Offizierkorps schwebt nicht in der Luft: Substrat und Träger sind die Angehörigen dieser Kaste, die ihn durch Erziehung, Überredung, Beispiel und Druck von Generation zu Generation verpflanzt haben. Die Behauptung, die deutschen Offiziere taugten nichts, ist falsch, wenn man die einzelnen Personen Mann für Mann betrachtet; sie ist richtig, wenn man sie ansieht, soweit sie Offiziere sind.
Das Verhalten des deutschen Offizierkorps im Kriege ist hier genealogisch und an Beispielen mit dem Resultat aufgezeigt worden, dass sich ein Teil des Volkes hinter die Kaste und ihre Dienstvorschriften versteckt hat, um einen sonst strafbaren und stets auf der Lauer liegenden Sadismus ungehindert an Landsleuten und Fremden austoben lassen zu können. Kein Einwand, dass es ihnen selbst nicht zum Bewußtsein gekommen sei. Kein Einwand, dass es eine Anzahl menschlich anständiger Offiziere gegeben hat, die das Kunststück fertig bekamen, die Anforderungen der Humanität und ihrer Kaste wenigstens einigermaßen in Einklang zu bringen – sehr beliebt waren diese Männer im Offizierkorps nicht, und es ist sehr wahrscheinlich, dass in ihrer Conduite die Note ›mangelnde Energie‹ gestanden hat.
Das Verhalten der deutschen Offiziere nach dem Kriege hat uns in einer Weise recht gegeben, wie man es nie für möglich gehalten hätte. Die Mörderliste E. J. Gumbels (›Zwei Jahre Mord‹; vierte, nochmals vermehrte Auflage, fortgeführt bis Erzberger), diese Liste wimmelt von Offizierschargen; es gibt kaum einen politischen Mord, begangen von rechts, in dem nicht Offiziere ihre Hände gehabt hätten: Liebknecht, Luxemburg, Eisner, Jogiches, Dorrenbach, Landauer, Futran, Schottländer, Erzberger und viele andre sind von Offizieren oder auf deren Geheiß ermordet, zerstampft, gelyncht, zerprügelt und zerschlagen worden. Alles, was nach dem Zusammenbruch ins Land zurückströmte, ließ die strategisch leicht angebuffte Tapferkeit an den wehrlosen Landsleuten aus. Jedes Wort unsrer aufklärenden Aufsätze ist von diesen Menschen mit Blut, mit edelstem deutschen Blut unterstrichen worden. Und im Verhalten der Kaste zu den Untaten der einzelnen liegt unser Hauptargument.
Einer Kaste kann die Verantwortung für die Untaten ihrer Angehörigen nicht ohne weiteres aufgebürdet werden. In dem Augenblick aber, wo die Kaste stillschweigend oder laut diese Untaten billigt, erklärt sie sich mit den Verbrechern solidarisch und darf nunmehr angefaßt werden, als habe sie selbst gesündigt. Der General, der am Tag der Ermordung Erzbergers telefonisch in Berlin erklärt hat: »Gottseidank, dass das Schwein tot ist! Da hol ich mir eine ordentliche Pulle Wein aus dem Keller!« hat nur zum Ausdruck gebracht, was die überwiegende Mehrheit dieser gewalttätigen, im Lande herumlungernden, stets auf Hochverrat sinnenden Landsknechtnaturen darüber denkt. In unzähligen Zeitungsartikeln, in Reden und Kundgebungen einer gewissen Schicht Offiziere ist der politische Mord als erstes und letztes Mittel verherrlicht worden – ein Beweis für die sittliche Verrohung dieser Kreise und für ihre geistige Ohnmacht.
Worauf sich diese Kaste so viel eingebildet hat, ist völlig unerklärlich. Ihre wenigen Tugenden sind mit der Unzahl ihrer Laster untrennbar verknüpft, und ihre eigentlichen fachlichen Leistungen werden von den Sachverständigen, die nicht bei dem Reklamedeutschen Stegemann und bei Dietrich Schäfer in die Schule gegangen sind, sehr verschieden beurteilt: das Schuhwerk der deutschen Mannschaften war unpraktisch und taugte nicht viel, und es ist nicht wahr, dass in der Armee vorbildlich für die ganze Welt geschossen und geritten wurde.
Die unsägliche Gemeinheit der Telefongenerale, ihre Fehler der Kohlrübenheimat aufzubürden, wird noch verstärkt durch die persönliche Verlogenheit der Legendenträger, von denen nachweislich keiner eine revolutionäre Propaganda großen Stils im Heere gesehen hat und gesehen haben kann: denn es hat sie nicht gegeben. Sie haben sich einen Bubu erfunden – aber sie sind es selbst gewesen. Viel wichtiger erscheint mir die kulturelle Gefährlichkeit, veraltete und verrottete Grundsätze des Offizierkorps ins Zivil zu pflanzen.
Briefe, Unterhaltungen, Reisen haben mir den Beweis geliefert, dass eine deutsche Offiziersdämmerung hereingebrochen ist. Es gibt doch schon ganz weite Volkskreise, gemäßigt gesinnte Männer, Familien, alleinstehende Frauen und Mütter, politisch sonst wenig interessierte Menschen, die sich über den Geist des deutschen Offizierkorps klar sind und unverhohlen darüber sprechen. Daß an den Universitäten ein organisiertes Rowdytum auf gut marburgisch den Deserteuren Lindström und Wilhelm nacheifert und eine Gesinnung pflegt, die gegen Hutten und Schopenhauer gehalten so undeutsch wie möglich und so kaschubisch wie möglich ist – das ändert nichts an der Tatsache, dass eine breite Schicht des Bürgertums und fast die gesamte Arbeiterschaft den deutschen Offiziersstand heute richtig beurteilt.
Wir haben das Unsre dazu getan. Das habe ich immer mit Freuden feststellen können. Aber wie sehr wir ihnen geschadet haben, das habe ich erst aus einem kleinen Buche ersehen, das in dem bekannten annexionistischen Verlag J. F. Lehmann zu München erschienen ist: ›Die Offiziershetze als politisches Kampfmittel und Kulturerscheinung‹. Der Preis des Buches ist 25 Mark; der Verlag oder die dahinterstehende Interessentengruppe haben sichs also was kosten lassen. Der Verfasser, anscheinend ein beim Journalismus untergekrochener Offizier, heißt G. A. Boehm.
Das Buch wimmelt von Unsorgfältigkeiten und falschen Angaben: mich identifiziert der Verfasser mit dem ›Sanften Heinrich‹ des ›Ulk‹ mit Walter Rilla, mit Erich Kuttner – sein Stilgefühl erlaubt ihm nicht, so verschiedenartige Schreibweisen auseinanderzuhalten; unsern urevangelischen Hans Siemsen hält er für einen verkappten ›Simonsohn‹; George Grosz ist ihm ein new yorker Jude – kurz: Bartels; worunter ich jene dem deutschen Stammtischler eigentümliche Kombination von Unbildung und Leichtfertigkeit verstanden haben möchte. Mit persönlicher Polemik wollen wir uns hier nicht lange abgeben, schon, weil auf der andern Seite keine Person, sondern nur zwei Achselstücke stehen; wer hat die Zeit, solch einem lallenden Stück Unglück klar zu machen, dass ein Buchtitel Peter Panters: ›Träumereien an preußischen Kaminen‹ dem alten Kitschbuch ironisch nachgebildet ist, dass man sehr wohl schlecht stilisierte Regimentsbefehle verfassen kann, ohne deshalb einwandfreies Deutsch zu verstehen – damit wollen wir uns hier nicht aufhalten.
Für das Niveau dieser Gruppe ist immer wieder bezeichnend, wie unbegreiflich für sie ist, dass ein Schriftsteller diese schwerwiegenden Angriffe gegen sie aus sachlichen Gründen unternimmt. Getreu dem Wort des Geheimrats Krüger: »Bolschewismus ist alles, was einem nicht paßt«, krempelt dieser Provinzjournalist, der vor der Front eine ganz gute Figur gemacht haben mag, sachliche Darlegungen in einen tendenziösen Feldzug um und sieht, zusammengeduckt unter den Prügeln, die er von uns bezogen hat, viele schöne außerhalb der Sache liegende Zwecke: Bolschewismus, Vernichtung der deutschen Führerschaft, Zerstörung des Reichs und ähnliche Dinge.
Man kann in Gruppenkolonnen und großen Verbänden systematisch denken und doch logisch traurig versagen. Vor dem Spektakel gegen das ›Winkelblättchen‹ ›Weltbühne‹, dem er eine Schrift widmet, das er auf den 110 Seiten dieser Schrift 43 mal vornimmt, gegen das er entkräftete Verleumdungen von neuem vorbringt – vor diesem lustigen Spektakel gibt der wackere Kumpaneiführer alles, alles zu, was wir an den Offizieren getadelt haben:
»Ein Fehler war während des Krieges die Ernennung zu vieler junger unreifer Leute zu Offizieren, unter Zurücksetzung bewährter Unteroffiziere und Mannschaften ›wegen nicht ausreichender wissenschaftlicher Bildung‹.
Ein weiterer Fehler war die zu weit gehende Wiedereinstellung von solchen ehemaligen Offizieren, die wegen ungenügender Leistungen oder sonst auf wenig rühmliche Weise abgegangen waren und nun die alte Unfähigkeit oder Minderwertigkeit aufs neue bewiesen und wiederum entgleisten.
Berechtigt sind ferner manche Klagen über unwürdige Lebensführung einzelner Offiziere, besonders in Etappe und Heimat, zu üppige Lebensweise bei einzelnen hohen Stäben, zu reiche Lebensmittelsendungen nach der Heimat, unter selbstsüchtiger Ausnützung besonderer Dienststellungen, Ungerechtigkeiten im Auszeichnungsverfahren und veraltetes Beschwerderecht.
Es kann auch nicht zweifelhaft sein, dass das Offizierkorps der Vorkriegszeit zu wenig Fühlung mit dem Bürgertum hatte, und dass es zu geringen Anteil an den geistigen Strömungen der Zeit nahm.
Auch im Offizierkorps hatte ein unerfreulicher Menschentypus der Neuzeit, der ›Gent‹, der vom ›Gentleman‹ nur die Außenseite kopiert, seinen Einzug gehalten.
Ein andrer Typus ist der ›Gamaschenknopf‹, der die Mahnung des Alten Fritz: ›Soignez les détails‹ in seinem Eifer ins Unsinnige verkehrte und nur noch an das Kleinste und Allerkleinste dachte.
Kurz vor dem Kriege warf plötzlich der Zabernprozeß ein unheimliches Licht auf die Kluft, die zwischen dem Offizierkorps und einem Teil des deutschen Volkes gähnte.
Die Beurteilung der für den (gesellschaftlichen) Verkehr geeigneten Persönlichkeiten erfolgte zu sehr nach äußern Rücksichten.
Die Jagd nach Geld und Genuß, das Einheiraten in noch dazu häufig international gesinnte Finanzkreise und, als Folge davon, eine übertrieben luxuriöse Lebensführung haben manchen ursprünglich einfachen und braven Offizier verdorben.«
Das alles zuzugeben und dann zu behaupten, der Kern einer solchen Kaste sei gesund gewesen: das bekommt nur jemand fertig, der einen Dienstbefehl als der Weisheit letzten Schluß ansieht. Das ganze wilhelminische Deutschland trompetet in diesem Buche. »Wir folgten«, so der Herr Hauptmann, »den fliegenden Kaiseradlern der deutschen Heere.« Das ist ein Druckfehler: es muß ›fliehenden‹ heißen. Der Rest ist Amerongen.
Die kindlichsten Aufsätze der ›Deutschen Tageszeitung‹ werden aufgewärmt. »Also heraus mit Namen, Daten, Truppenteil, damit die Fälle geklärt werden und die Beschuldigten Gelegenheit haben, sich zu äußern.« Diese Äußerungen kennen wir. Als ob es statt dieser Flut von Ausreden nicht darauf ankäme, den Typus zu charakterisieren, der sich am besten aus dem heillosen Erstaunen einer Truppe ergab, wenn der neue Kompanieführer kein ›gemeiner Kerl‹ war! Als ob es nicht darauf ankäme, die Kaste und ihr unheilvolles politisches Wirken als Ganzes zu fassen, als ein Ganzes, das ebenso gefährlich wie frech war! Über mich läßt das ›Deutsche Offiziersblatt‹ verlauten: »Ihm sind offenbar die Offiziere nicht zahlreich genug, die in den Revolutionskämpfen ihr Leben gelassen haben.« Ich bedaure jeden Toten; aber ich muß daran erinnern, dass man sie nicht zuerst angegriffen hat, dass von den Offizieren die schlimmsten Übergriffe erfolgt, und dass sie alle für ihre eigne Sache gefallen sind: für die Verewigung eines Landsknechttums, das sich Selbstzweck ist und in einer friedlichen Welt seinen Untergang vor Augen sieht. Was die Übergriffe angeht, sagt Herr Boehm: »Ganz planmäßig wurde von bedauerlichen Einzelvorkommnissen auf die Allgemeinheit geschlossen.« Die bedauerlichen Einzelvorkommnisse liegen, dreihundert und noch mehr Mann, ungesühnt unter der Erde.
Bewiesen sei nichts? Aber wenn wir beweisen, dann schreit das ›Deutsche Offiziersblatt‹ von ›etwaigen Meldungen dunkler Ehrenmänner‹, von Denunziantentum – und wenn der ›Vorwärts‹ die unglaublichen Speisefolgen der armen Armeeoberkommandos veröffentlicht, Menüs, in denen Tausende von Eiern vergeudet wurden, während die Kinder und Frauen in der Heimat vergessen hatten, wie so ein Nahrungsmittel aussah, dann hat das schwarz-weiß-rote Papier weiter nichts dazu zu sagen als: »Gewiß wäre es besser gewesen, wenn frühzeitig darauf verzichtet worden wäre, einen Zuschnitt der Lebensführung beizubehalten, der für die Allgemeinheit des Heeres nicht in Frage kam.« Und dahinter natürlich die kasinodumme Retourkutsche, wo denn die Redakteure des ›Vorwärts‹ im Kriege gewesen seien.
Meinetwegen hinter der Front. Denn man hatte sie zu einem Dienst gepreßt, den nicht sie sich, wie jene, als Beruf erwählt hatten, und die jammervolle Gedankenführung von der Notwendigkeit, dass sich die hohen Kommandostäbe weit hinter der Front befanden, mag im Vaterländischen Unterricht die Problematik des modernen Krieges gelöst haben, die darin bestand, dass Achilles wie ein Kommerzienrat am Schreibtisch saß und der letzte Packknecht das tat, was einst Hektor getan hatte: kämpfen. Die menschliche Rückwirkung dieser technischen Anomalie kann nur ein Kasinohirn leugnen.
Über Ludendorff sind die Akten geschlossen. Sein ›Selbstporträt‹ von Hans Delbrück hat von dem Mann heruntergerissen, was an geklebtem und gepumptem Ruhm noch auf ihm war; wenn der Buchschreiber von ihm sagt, Angriffe gegen seine Person seien ihm verhältnismäßig gleichgültig, so glaube ich das schon deshalb, weil sichs ja nicht um Angriffe wie die der Offiziere gegen Eisner oder Erzberger handelt, sondern um gedrucktes Papier, und vor dem flieht man nicht nach Schweden. Hindenburg ist in der ersten Zeit nach der Revolution besser weggekommen, weil er sich bescheiden und zurückhaltend, wie es einem geschlagenen Feldherrn geziemt, im Hintergrunde gehalten hatte. Seit er mit Hakenkreuz und belanglosen Unrichtigkeiten umherfuchtelt, muß man auch bei ihm vergessen, dass er graue Haare hat. Ein ehrwürdiger Greis, der die gefallenen jüdischen Soldaten beschimpft, ist keiner.
Wenn sich der Verfasser der Broschüre nicht grade über mich ärgern muß, dann bemüht er sich, den hohen Kulturstand der Offiziere darzutun. Du lieber Himmel! Aus dem nicht im Handel befindlichen Kriegstagebuch eines Gardehauptmanns, mit dem wir hier nächstens Schlitten fahren werden, lassen sich Perlen über die Denkweise dieser Offiziere sammeln. »Ich fragte einen Gefangenen, wie sie zu der Frechheit kämen, die kaiserliche Garde anzugreifen.« Man stelle sich das Bild vor: der eine Kriegsmann fragt den andern von der Gegenseite, wie er sich erlauben könne, zu schießen! Der Franzose gab dem Mann die einzig richtige Antwort: »Ce n'est pas ma faute, monsieur!« sagte er. Und wenn der Buchschreiber die hohen sittlichen Qualitäten der deutschen Offiziere hervorhebt, so ließe sich Schilderung an Schilderung reihen, die das Gegenteil besagen. »Viele ihrer losen Streiche spielten sich unter dem Banner wüster Trunkenheit ab. Da ritten die Offiziere mit Vorliebe auf dem Trottoir und trieben die Arbeiter mit der Reitgerte auf den Straßendamm. In einem ihrer Stammlokale wurde, wenn es besonders hoch hergehen sollte, die Kellnerin Objekt ihrer rohen Späße. Es fing damit an, dass man ihr das Gesicht mit Senf beschmierte; womit es endete, malt keine Phantasie sich aus.« So berichtet Kurt Martens, dem auch Bartels keine jüdische Großmutter anhängen kann, über seine Dienstzeit. Wenn der Hauptmann v. Brandes in seinen ›Kriegserfahrungen eines Frontoffiziers‹ (herausgegeben vom Chef des Generalstabs des Feldheeres) behauptet: »Ich möchte sagen, der moralische Schweinehund erstarkt im Grabenkriege auf Kosten des dahinsiechenden Offensivgeistes«, so ist zu bemerken, dass sich dieses Offizierkorps die größte Zeit seiner Existenz ›im Grabenkriege‹ befunden hat.
Wie es aber mit dem Frühlingserwachen beim Offizier bestellt gewesen ist, das schildert das Büchlein recht romantisch: »Die ersten geheimnisvollen Schauer, die das Erwachen des Geschlechtsgefühls in uns hervorruft, die scheue Bewunderung, mit welcher der heranwachsende Knabe im Mädchen ein Wesen feinerer, zarterer Art erblickt, und in der er – wenn er die Kultur hat, wie ich sie verstehe – niemals wagen würde, es zu berühren … « Der erste ›Schuß‹, den der aktive Offizier in seinem Leben kennen lernte, war bekanntlich das so benannte homosexuelle Verhältnis im Kadettenkorps. Und die Auffassung, die im Offizierkorps (und, nach diesem hehren Vorbild, in der Studentenschaft) über die eheringlose Geschlechtlichkeit Zuhause war, wird an Brutalität von keinem Negerstamm übertroffen. Ringlos? Die Hunderte von vertuschten Eheskandalen in Offizierskreisen lassen dieses Urteil milde erscheinen.
Als Universalmittel, die hinten heruntergerutschte Ehre dieses Korps zu retten, empfiehlt der Verfasser die Privatklage. Triumphierend verkündet er diese oder jene politische Privatmeinung deutscher Richter, gekleidet in die Form von Urteilen, in denen die Verfechter der Wahrheit zu irgendwelchen belanglosen Strafen verurteilt worden sind. Ein netter Stand, der nötig hat, wie eine vom Flurnachbar beleidigte Gemüsefrau um der ›Ehre‹ willen vor Gericht zu laufen. Damit stimmt auch durchaus überein, dass dem Buch, wie ein Reklameschreiben für ein Haarwasser, das Urteil Hindenburgs, eines Offiziers, über das deutsche Offizierkorps beigefügt ist. Und kann ich Ihnen selbes bestens empfehlen … Wir danken.
Die politischen Ausführungen des Büchleins halten sich auf ähnlicher Höhe. Daß Professor Nicolai ein Hochverräter ist, steht für das Achselstück fest; dabei hat der Mann mit seiner Entfernung aus Gesinnungsgründen mehr Mut bewiesen als der kaiserliche Ausreißer im Automobil. Und wie sich das Strafrecht in solch einem helmbedeckten Kopf malt, zeigt die Beurteilung des Kapp-Putschs: »Ganz aus dem Häuschen gerieten die Militärfeinde naturgemäß in den Kapp-Tagen. Die Angst vor der Reaktion und dem Wiedererwachen des Nationalgefühls fuhr ihnen mächtig in die Gebeine.« Auf einmal heißt nun eines der schwersten Verbrechen, die das Strafgesetzbuch kennt, »Wiedererwachen des Nationalgefühls«, und es ist die einzige Stelle in der ganzen Broschüre, die wirklich wahr ist: so sehen sie aus. Die deutschen Offiziere haben ja damals auch die Unverfrorenheit gehabt, gegen mich die Einleitung eines Strafverfahrens zu probieren, weil ich im ›Ulk‹ den uniformierten Hochverrätern einen Klaps versetzt hatte. Sie machten ihr Recht auf Hochverrat geltend. Sie tun es mit allen Mitteln. Sie lesen noch aus Spengler das heraus, was sie verstehen; es ist nicht viel, aber dafür verstehen sie ihn falsch, weil sie nicht wissen, dass für Spengler Liberalismus eine Weltanschauung ist und keine politische Partei. Die Kurzstirnigkeit dieses Kasinovolks übersteigt alle Satire. Das kann man gar nicht erfinden. Eine Reihe spanischer, französischer, englischer Namen versieht der Verfasser mit dem Zusatz »und andre Namen von ähnlicher Klangschönheit«. Es kann eben nicht jeder Tillessen oder Schulz heißen.
Das Buch ist von Gevatter Meier für Gevatter Müller geschrieben und bei Gevatter Lehmann erschienen, und soweit ist alles in Ordnung. Nicht in Ordnung aber ist, dass diese verderbliche Gesinnung heute noch weiter schwärt, und dass immer noch die Kaste jeden Schweinehund deckt und sich wundert, wenn man ihn ihr aufs Konto bucht. Ein Offizier des Reiterregiments Nummer 3 in Rathenow schießt, ganz wie unter Wilhelm, im Caféhausstreit einen Zivilisten tot, und ich weiß bestimmt, dass die anständigen Offiziere, die es ja immerhin auch noch gibt, eine Tat verurteilen, die aus der Gewöhnung entsprungen ist, Gasthausskandale mit den Mitteln eines Zuhälters zu beenden. Kein Wunder, wenn der Vorgesetzte dieses Offiziers, Herr Enkewort, im Hauptausschuß des Reichstags die Feststellung über sich ergehen lassen mußte, dass er Untergebene, die etwas versehen haben, also deutsche Beamte, auf sein Zimmer bestellt, ihnen befiehlt, die Hosen herunterzulassen, und sie eigenhändig verhaut. Eulenburg und Dippold lieblich gepaart.
Selbstverständlich haben diese Männer das Deutschtum monopolisiert und gepachtet. Der Verfasser der kleinen Schrift, deren Held ich bin, und deren Kasper er ist, zitiert ein paar Mal stolz Schopenhauer. Er hätte ihn nicht zitieren sollen. Denn eben dieser Schopenhauer hat, die Geschichte seines Landes und die Verfassung seiner Umwelt betrachtend, festgestellt: »Die wohlfeilste Art des Stolzes ist der Nationalstolz … Der Rang, so wichtig er in den Augen des großen Haufens und der Philister und so groß sein Nutzen im Getriebe der Staatsmaschine sein mag, läßt sich, für unsern Zweck, mit wenigen Worten abfertigen. Es ist ein konventioneller, das heißt: eigentlich ein simulierter Wert: seine Wirkung ist eine simulierte Hochachtung, und das Ganze eine Komödie für den großen Haufen … Dieser Wahn bietet allerdings dem, der die Menschen zu beherrschen oder sonst zu lenken hat, eine bequeme Handhabe dar: weshalb in jeder Art von Menschendressierungskunst die Weisung, das Ehrgefühl rege zu erhalten und zu schärfen, eine Hauptstelle einnimmt.« Und eben dieser Schopenhauer hat über die Offiziere das letzte, das erledigende Wort gesprochen: »Die Gehalte der Zivilbeamten, noch viel mehr aber die der Offiziere stehen (von den höchsten Stellen abgesehen) weit unter dem Wert ihrer Leistungen. Zur andern Hälfte werden sie daher mit der Ehre bezahlt. Diese wird zunächst durch Titel und Orden vertreten, im weitern Sinne durch die Standesehre überhaupt.«
Der Buchverfasser, von Gott und uns geschlagen, dreht sich verwundert fragend um, wer ihm da die Hurratüte über die Ohren getrieben hat. Er klagt über eine »Zeit, in welcher der Deserteur den Frontkämpfer … ungestraft verhöhnen darf«, und wenn er damit die Schimpfreden Ludendorffs auf seine Soldaten meint, sind wir durchaus einverstanden.
Aber gegen eins wehren wir uns. »Der Offizier ist selbst heute, solange überhaupt eine Wehrmacht vorhanden ist, der sichtbarste Vertreter des deutschen Nationalgefühls.«
Das ist er nicht. Er mag der lauteste, der arroganteste sein: mit dem wahren Deutschland hat er so wenig zu tun wie der Feldwebel oder Wilhelm der Zweite.
Vorbei. Es dämmert in den Köpfen. Ein kleiner Teil der Offiziere, ein großer Teil anständig gesinnter Deutscher rückt von diesem Ungeist wissenschaftlich verbrämter Simpel, von skandalierenden Kulissenreißern, von Freikorpsführern, Totschlägern und geistigen Schädlingen ab. Ihre Zeit ist vorüber.
Auch die Offizierskaste wird sich daran gewöhnen müssen, soziologisch eingegliedert zu werden wie jede andre Gruppe. Sie hat keinen Anspruch, als etwas Besonderes gewertet zu werden, vor allem aber keinen, aus der Untersuchung über die Gesellschaftsstruktur mit Rücksicht auf irgendwelche Standesvorurteile auszuscheiden. Sie ist nicht tabu.
Fürchten die Angehörigen des deutschen Offizierkorps die öffentliche und unbefangene Kritik, so ist das ein Zeichen mehr für ihren Niedergang, für ihre Schwäche.
Die Untersuchung ist erfolgt, und ihre Resultate stehen fest. Und sind in weiteste Kreise gedrungen: Mene mene tekel upharsin. Gewogen, gewogen und zu leicht befunden.
Ignaz Wrobel
Die Weltbühne, 30.03.1922, Nr. 13, S. 309.