Das Hüsterchen
Die Volksbühnen, sagt man, beständen aus dem empfindlichsten Theaterpublikum, und das ist wohl richtig. Wie hübsch wäre es, wenn es sich noch den einen Fehler abgewöhnen wollte, den es mit allen andern Theaterbesuchern teilt: das Hüsterchen.
Wenn die Gardine beiseite rauscht und das gelbe Viereck da vorn der einzige helle Fleck im Hause ist, dann sind die zweitausend Köpfe eine einzige Sache. Atemlos, regungslos hockt ein großes schwarzes Tier und ist nur Auge und Ohr … Atemlos?
Ich weiß schon: von soviel Menschen haben wirklich einige einen bösen Katarrh, und sie wollten deshalb den Theaterbesuch, auf den sie sich so gefreut haben, nicht aufgeben. Ich weiß schon: manche Menschen haben die Angewohnheit, sich von Zeit zu Zeit zu räuspern … Zugestanden. Aber für den Theatermann ist es nicht sehr possierlich, zu hören, wie das tausendköpfige Tier schnauft und hustet – manchmal hustet es, dass du glaubst, in einem Sanatorium zu sein.
Es gibt manche Arten von Hustern. Männer, die donnernd und polternd die Schleusen ihres Innern öffnen – Frauen, die im Sopran, aber achtmal hintereinander hüsteln – Dauerhuster und Leute, die kollern, dass alles denkt, jetzt ersticken sie – und inzwischen ist vorn auf der Bühne eine schöne, leise, lyrische Stelle davongegangen … Prost!
Und doch geht es auch anders. Ich habe in allen Theatern – und besonders in der berliner Volksbühne – die Erfahrung gemacht, dass der Publikumshusten allemal dann jäh verstummt, wenn auf der Bühne etwas geschieht, wenn etwas vor sich geht, wenn einer kommt, wenn sie einen wegtragen – kurz: bei handgreiflichen dramatischen Szenen. Monologe und lange Gespräche scheinen dagegen zum Husten zu reizen.
Ich meine, dass das Hüsterchen nicht nur etwas ist, was die andern Leute, die Parkettnachbarn und die Schauspieler stört – ich glaube, das Hüsterchen ist eine Art Kunstbetrachtung. Es ist sehr oft die Betrachtung des Mannes, der auf alles hustet, was nicht – im Sinne des Kinos – rein dramatisch ist. »Was erzählt er da vorn? Na, das wird ja wohl nicht so wichtig sein … !« Prost!
Von guten Manieren abgesehen: gerade der Theaterbesucher der Volksbühne sollte sich diese Kunstbetrachtung nicht zu eigen machen. So wichtig die Handlung eines Stückes ist, so gewiß das Theater keine Schwatzbude sein soll – aber das Theater ist nun auch nicht nur zur Abwicklung irgendwelcher Handlung da. Es ist schon von Wichtigkeit, was sich die Leute da vorn erzählen – und es ist merkwürdig, wie wenig Leute imstande sind, ein Kunstwerk als Ganzes zu erfassen. So viele glauben, ein Theaterstück bestehe aus lauter kleinen Flicken und Szenen, aus Einfällen und Witzen, aus rührenden und erheiternden Stellen, die man einzeln betrachten, einzeln belachen und einzeln beweinen müsse. So ist es aber nicht.
In einem englischen Stück, einer Dramatisierung des Kiplingschen Romans »Das Licht erlosch«, gibt es eine Stelle, wo der erblindete Held einen Stuhl umwirft. Die Londoner Galerie lachte darüber Tränen. Sie hielt das Tappen des Mannes für einen Clownscherz. Das wäre ja nun in Deutschland kaum möglich – aber es ist ein bißchen davon in den falschen Lachern und in den unaufmerksamen Hustern derer, die immer noch meinen, ein Stücke müsse sie in jeder Minute unterhalten und spannen – und die Einzelheiten des Theaterspiels seien dazu da, Stück für Stück einzeln zu amüsieren. Das ist Kino.
Wir sollten gerade beim Theaterspiel der Volksbühnen, die ein ganz bestimmtes künstlerisches Programm ihr eigen nennen, den Faden des Gesamten nicht aus dem Auge verlieren. Ein leiser Monolog bei Tagore, ein stummes Spiel bei Raimund, ein spielerisches Hin und Her bei Shakespeare – all das bringt vielleicht im Augenblick die Handlung nicht vorwärts.
Aber es ist notwendig, es ist mit voller Überlegung vom Dichter erfaßt, damit wir die Leute liebgewinnen, die da vor uns spielen, also leben – damit wir später um so mehr Anteil an ihren Schicksalen nehmen. Ein großer Schicksalsfall, an den Anfang eines Abends gestellt, würde keinen Menschen interessieren, weil er sich mit Recht sagen würde: was geht mich jene erdachte Gestalt an, was jener geschminkte, verkleidete, engagierte Schauspieler? Das macht: er hat noch keine Fühlung zu ihm. Die muß er erst gewinnen.
Freilich: er muß zuhören. Und darf nicht alles zerhusten, was nicht Haupt- und Staatsaktion ist. Wenn ein Kind von den Wölfen gefressen wird – dann lauscht alles atemlos: aber die Klage der Mutter um ihr Kind zerhustet manches Haus, das dann eher einer Poliklinik gleicht als einem Theater.
Erst wenn wir das Kino und seine Kunstanschauung aus dem Herzen verbannt haben – erst dann wird die Aufmerksamkeit ganz ungeteilt sein. Und nur schüchtern und vereinzelt, wenn ganz unvermeidlich, wird es sich dann hier und da hervorwagen: das Hüsterchen.
Peter Panter
Berliner Volkszeitung, 27.11.1921.