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Ein jeder lebts

Meine sehr mäßige deutsche Schulbildung langt nicht, um Ihnen zu sagen, wie man einen Stein nennt, an dem ein Stückchen Quarz sitzt und ein Stückchen Glimmer und ein bißchen sowas und bißchen sowas … Diesen lateinischen Namen also weiß ich nicht. Aber solch ein Buch gibt es. Es ist so ziemlich das seltsamste, was man sich denken kann. Es ist von … Nun, wir wollen erst einmal aufschreiben, was auf dem Titelblatt steht: ›Ein Jeder lebts‹ von Hans Bötticher (erschienen bei Albert Langen in München).

Ein Fressen für ›Einflüsse‹ suchende Doktoranden. Denn alles ist darin: Altenberg und englische Vorbilder und Bret Harte und Wilhelm Raabe (der in der Vollendung) und Thomas Mann und Harraden (›Schiffe, die nachts sich begegnen‹) und noch viel mehr. Es sind ein Dutzend kleiner Geschichten, eine immer hübscher als die andre. Und eine immer merkwürdiger als die andre, weil sie eigentlich alle zwölf recht verschieden voneinander sind. Das Lever eines kleinen deutschen Fürsten ist noch niemals so zart und minutiös geschildert worden; die Sentimentalität ist so hübsch in bunten Teig eingebacken, dass man sie nur ganz leise im Nachgeschmack hat – und was gradezu erstaunlich ist, das ist das Auge und das Ohr des Autors. Er hört noch die Schwingungen, die in den Pausen zwischen den Worten sind – es entgeht ihm nichts – es ist oft eine Liebe wie bei Whitman, wenn er beobachtet und tendenzlos feststellt, was es alles gibt auf dieser bunten Erde … So in der Anfangserzählung ›Die wilde Miss vom Ohio‹: da gibt es einen Ton, eine Melodie, ein Nachzittern der angeschlagenen Saiten, wie das wohl sonst nur ein Autor erreicht, wenn er solch ein Präludium an den Anfang eines ganz dicken Buches stellt, in dem nun wirklich die Geschichte der wilden Miss in vierhundert Seiten erzählt wird … Dieser gibt nur das Präludium – das Stück ist niemals geschrieben worden.

Aber was ist das alles gegen meine alte Lieblingsgeschichte: ›Durch das Schlüsselloch eines Lebens‹. Sie stand einmal im ›Simplicissimus‹ – und ich wußte jahrelang ganze Absätze daraus fast auswendig, ohne mich jemals um den Autor gekümmert zu haben. Diese Geschichte ist so:

Ein Mann geht, um sich seinen Burgunderkopf auszulüften, morgens durch die Vorstadt aufs Land – geht spazieren und sieht sich jene vermiekerte Gegend an, wie sie so um die Großstädte zu sein pflegt: nicht mehr Stadt und noch nicht Land, aber von beiden die schlechten Eigenschaften. Und findet da im Schnee ein kleines Damen-Notizbuch. Die Adresse steht darin. Auch Bleistiftnotizen: »Graf Naschauer – Perlgürtel – Puderdose – Bahnhof – vier Uhr Kaiserplatz kleiner Schwarzer – Rezept Hirschpastete – ein Neger mit Gazelle zagt im Regen nie – Baron von Biegemann, Frankfurt am Main, Taunus-Straße 7 –« und was so in einem Notizbuch steht. Und weil der Mann müde und ausgeruht zugleich ist und etwas sucht, was ihn aufrütteln könnte, so geht er in die Wohnung dieser Dame. Sie ist ausgegangen. Und der Mann sieht sich nun einen langen dämmerigen Winternachmittag lang alle Sachen in dieser Stube an, die Bilder und den Kanarienvogel, der einen Berg Futter aufgeschüttet, aber kein Wasser bekommen hat, und Bücher und Fotografien und rät so herum … Einmal taucht er auch das Gesicht rasch in einen Stoß weicher Spitzenhosen, die da auf dem Bett liegen – »trat aber doch darauf schnell und verlegen zurück«. Und blättert in Büchern, die ihm fremd sind, und blättert in einem Leben, das ihm so nahe ist, und sieht, wie dieses Damenleben abwärts gegangen ist, und überblickt, wie es weiter gehen wird … Und weil man aufhören soll, wenns am besten schmeckt, geht er leise aus dem Zimmer und zieht leise die Tür hinter sich zu.

Wer hat so viel Achtung und Liebe vor fremdem Leben, vor der fremden Fülle, der Wichtigkeit der andern, den Mikrokosmen der andern … ? Wer ist dieser Hans Bötticher?

Wer? Unser Joachim Ringelnatz.

Peter Panter
Die Weltbühne, 02.11.1922, Nr. 44, S. 482.