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Tanzkunst

Was kann aus einer Mietshausschublade Gutes kommen? Daß die paar Geviertmeter Raum, die du, Deutscher, mit Bewilligung des zuständigen Wohnungsamtes und nach erfolgtem Nachweis der Bedürfnisfrage deiner Existenz, bevölkern darfst, Wohnung heißen: das ändert nichts an der Tatsache, dass die meisten Städter heute, erst recht heute, ein menschenunwürdiges, geplagtes, lächerliches Dasein führen … Gehen aber doch aus ihrem engen Zimmermuff in beleuchtete Säle und genießen dortselbst, nach erfolgter Anmeldung beim zuständigen Polizeirevier, nach Ablegung der Garderobe und nach Einnehmung des ihnen zugewiesenen Platzes: Körperschönheit. Fatinga tanzt.

Es mutet ein wenig lustig an, wenn – seit Isadora Duncan – die Tanzschreiber aus diesem Volk, aus dieser ökonomischen Lage, aus diesem Boden heraus den Tanz zu einem Nationalelement, zu einer Art öffentlicher Kunstübung machen wollen und das Maul so erschrecklich voll nehmen, als gäbe es die von Grosz gezeichneten Fratzen nicht, als liefen diese Puppen unsres größten Karikaturisten nicht stinklebendig herum … Schönheit? Na, dann auf Wiedersehn.

Die ein wenig krampfig konstruierte Historie des Tanzes (also der gar nicht bodenständigen und aufgepfropften Tanzabende vieler Mädchen), diese gemachte Historie ist schon ein paarmal geschrieben worden: von Hans Brandenburg (das Buch hat die herrlichsten Fotografien) und von Frank Thieß, der mehr schwitzt als alle Tänzerinnen zusammen und es in dieser Beziehung mit jedem Kunstschriftsteller aufnehmen kann. Ernst Blaß tut das gar nicht. Bis auf den Titel ist das kleine Buch, das er geschrieben hat und das mit hübschen Bildern geschmückt ist, ausgezeichnet: »Das Wesen der neuen Tanzkunst« (bei Erich Lichtenstein in Weimar). Ob das das Wesen der Tanzkunst ist und ob die als selbständige Kunst wirklich existiert, lebt und da ist –: jedenfalls sind es sehr feine Anmerkungen zum Thema, und das ist auch etwas wert.

Die Schilderung des »exakten Zauberwalds« – so nennt Blaß das alte Ballett – ist sicherlich das Beste, was es in dieser Schublade gibt: die technischen Grundlagen des Tanzes sind ruhig und sachlich erörtert, und die Charakteristiken der großen Tänzerinnen sind so unaufdringlich und bescheiden, so leise und so klug abgefaßt, dass man seine helle Freude haben muß. Die »Canaille« der Valeska Gert, ein Meisterstück des modernen Tanzes, ist noch nie so gut und so knapp, in fünf Zeilen, aufgezeichnet worden (und das hat diese große Künstlerin verdient). Und mancher Satz in dem Büchlein gemahnt – höchstes Lob – an den Marionetten-Aufsatz Heinrichs v. Kleist.

Peter Panter
Die Weltbühne, 20.07.1922, Nr. 29, S. 71.