Zahlen unwirklich
Bei keinem Redeteil scheint es so einleuchtend wie beim Zahlwort, dass die sprachliche Bezeichnung der Wirklichkeitswelt entspreche. Je mehr die moderne Naturwissenschaft mathematisch geworden ist, je mehr sie Sinneseindrücke wie Töne und Farben, je mehr sie chemische Erscheinungen auf Zahlenverhältnisse zurückführt, desto mehr will es scheinen, als ob die Lehre des alten Pythagoras wieder zu Ehren kommen solle, dass nämlich die Harmonie des Weltalls wie die der Musik auf Zahlenverhältnisse gegründet sei. Wie aber wenn "Zahlen" an sich schon Verhältnisse wären, das Wort Zahlenverhältnis also ein überflüssiger Pleonasmus? Dann würde die Ansicht der alten und der neuen Pythagoräer nur noch deutlicher zum Ausdruck kommen: dass nämlich das innerste Wesen der Welt aus Zahlen bestehe, dass — modern ausgedrückt — das Ding-an-sich die Zahl sei. Ich weiß nicht, ob diese Hypothese schon einmal mit so dürren Worten ausgesprochen worden ist, aber sie liegt unserer Physik und Chemie zugrunde.
Dem gegenüber möchte ich die Frage aufwerfen, ob es für uns überhaupt vorstellbar sei, Zahlen in den Dingen selbst anzunehmen, Zahlen anderswo anzunehmen als in unserem Menschenkopf? Wenn in meinem Garten zehn Birnbäume stehen, so frage ich: Wo in aller Welt kann die Zahl zehn stecken als in meinem Kopfe? Ich meine damit nicht bloß, dass die Birnbäume von ihrer Zahl nichts wissen, sondern dass die Zahl mit ihrer Existenz, mit den Ursachen und den Folgen ihrer Existenz nie und nimmer etwas zu schaffen haben kann. Wenn zehn Birnbäume mehr Nahrung aus dem Boden saugen und mehr Früchte tragen als fünf Birnbäume, so ist dieses Verhältnis nur in meinem Kopfe vorhanden; in der Wirklichkeitswelt gibt es nur den Stoffwechsel und die Fruchtbildung. Die Zehnzahl ist nicht in den Birnbäumen, nicht in einem einzigen und nicht in allen. Sie ist ein Verhältnis, durch welches ich meinen Schaden oder Nutzen bequemer übersehen kann.
Aber auch in der Physik und Chemie, wo die Zahlen eine ganz andere wissenschaftliche Bedeutung haben, scheint mir der Gedanke nicht vorstellbar zu sein, dass die Zahlen wirklich wären. Wenn eine bestimmte Anzahl von Schwingungen einen bestimmten Ton oder eine bestimmte Farbe erzeugt, so ist wohl das Verhältnis der Schwingungen vorhanden, das Verhältnis zur Zeit, aber nicht ihre Zahl. Genau so wie eine größere Anzahl von Birnbäumen einen anderen Erfolg hat als eine geringere, hat auch eine größere Zahl von Schwingungen einen anderen Erfolg als eine geringere. Und das viel regelmäßiger. Aber die Regelmäßigkeit beweist nichts für die Wirklichkeit der Zahlen; wäre der Pflanzenwuchs so einfach wie die Schwingungen einer Saite, böten Sonne, Feuchtigkeit, Wind, Insekten usw. nicht tausend Komplikationen, auch der Erfolg der Birnbäume wäre regelmäßig nach ihrer Zahl, und die Zahl wäre darum dennoch nicht wirklich. Ebenso scheint mir der Gedanke unvorstellbar, dass die Zahlen wirklich seien, in deren Verhältnis sich die Atome zu Molekülen vereinigen sollen. Die Regelmäßigkeit mag noch genauer sein als in der Optik und Akustik; die Wirklichkeit ist damit nicht bewiesen. Mag die Anordnung von sechs Atomen zu gewissen Molekülen so notwendig sein, wie die Stellungen und Bewegungen von acht Personen zu gewissen Tänzen, so ist die Sechszahl der Atome darum so wenig in der Wirklichkeit wie die Achtzahl der Tänzer. Beim Tanze wird man es mir zugeben. Die Achtzahl ist weder in einem der Tänzer noch in ihnen allen, noch im Tanze, noch im Tanzsaal, sondern einzig und allein in den Köpfen der Zuschauer. So ist die Sechszahl der Atome weder in einem von ihnen, noch im Molekül, noch im Raume, noch in der Zeit, sondern nur im Kopfe des Chemikers, der sich seine Sechzsahl übrigens auch tatsächlich nicht vorstellen kann. Das chemische Kekulésche Sechseck ist eingestandenermaßen eine bildliche Ausdrucksweise für eine unvorstellbare Wirklichkeit, eine Metapher. Man hat sich in der Physik nur noch nicht darauf besonnen, dass auch die Zahlen der Schwingungen Metaphern sein mögen für einen Vorgang, den wir nicht beschreiben können.
Wir wissen von der Wirklichkeit nur, dass in ihr neben anderen Verhältnissen auch Einheitsverhältnisse bestehen. Die einzig wirklichen Verhältnisse waren vor den Zahlen da, mit deren Hilfe wir sie messen, wie die Verhältnisse noch nicht gemessener Räume doch schon da sind. Es gibt auf der Welt eben so viele Schafsköpfe wie Schafsherzen; und auf jeden Schafskopf kommen vier Schafsfüße. Dieses letztere Verhältnis ist aber nicht mehr ganz der Natur entsprechend ausgedrückt; die Natur kann nicht zählen, nicht bis zu vier. Die Natur kennt nur die "Einheit", und darum irrt sie sich nie. Sie liefert zu jedem Schafsherzen den nötigen Schafskopf, und nur darum liefert sie von beiden die gleiche Zahl. Aber sie weiß nicht, wie viele Schafsköpfe und Schafsherzen es gibt. Sie weiß es nicht nur nicht, die Anzahl ist auch in der Natur nicht vorhanden, auch nicht einmal stillschweigend, nicht einmal unbewußt. Es gibt keine Zahl außer im Menschenkopfe. Und auch da ist die Zahl erst durch die Sprache entstanden. Denn minder entwickelte Völker kennen ebenfalls nur Einheitsverhältnisse, nicht aber Zahlen. Es gibt "wilde" Völkerschaften, bei denen man z. B. die Zahl der drohenden Feinde noch in natürlicher Weise angibt. Da diese Leute nicht zählen gelernt haben und die sie interessierende Gefahr dennoch im Verhältnis steht zu der Anzahl der Feinde, so verständigen sie sich mit ihren Bundesgenossen, wie die Natur es macht, wenn sie hundert Schafen hundert Köpfe zu geben hat. Sie gibt jedem den seinigen. Und sie kann sich nicht irren, weil sie eben keine Zahl kennt. Hat also unsere wilde Völkerschaft die Feinde erschlagen, so schickt sie z. B. deren abgehauene Köpfe oder rechte Hände oder die Nasen als Botschaft ab, und wenn der Feinde siebzehn waren, so werden siebzehn Köpfe oder Hände oder Nasen eintreffen. Weder die Sieger noch ihre Freunde werden über das Verhältnis im Zweifel sein, obwohl sie für die Zahl siebzehn keine Ziffer und kein Wort haben. Genau so wie die Zahl siebzehn auch bei den Feinden nicht wirklich war. Und vor dem Kampfe werden die Angegriffenen siebzehn Steinchen oder Muscheln an ihre Freunde schicken, wenn sie Hilfe bedürfen. Auf jeden Feind ein Steinchen oder eine Muschel.
Wenn ich nun wie den anderen Redeteilen auch dem Zahlworte die Bedeutung abspreche, ein sprachlicher Ausdruck für Kategorien der Wirklichkeit zu sein, so kann man mir auf Grund dieser meiner Darstellung entgegenhalten: Die Zahl müsse durchaus genau der Wirklichkeit entsprechen, wenn sie auch nur das Verhältnis der Einheiten (wie bei den Schafsköpfen und Schafsherzen) zur Grundlage habe; denn es käme ja doch nur in den Zahlworten unserer Sprache zu unserem Bewußtsein, was in der Natur unbewußt, aber wirklich sei, wie die Zahl der Birnbäume in meinem Garten. Diesem naheliegenden Einwand sollte aber schon vorhin entgegengetreten werden mit den Worten, es handle sich nicht bloß darum, dass die Birnbäume selbst ihre Zahl nicht wissen. Wieder sind wir bei dem Punkte angekommen, wo die Darstellung unseres Gedankens an den Grenzen der Sprache scheitert. Weil wir die Wirkung einer Kraft nicht anders als durch Zahlen ausdrücken können, darum verlegen wir die Zahl auch noch in die unbewußten Dinge hinein. Wir sagen: Gut, das Bewußtsein der Zehnzahl der Birnbäume mag allein in meinem Kopfe sein; aber was dieser Zehnzahl in der Wirklichkeit entspricht, das ist auch in der Natur, ihr unbewußt, dieselbe Anzahl. Nein, antworte ich; schon der unbestimmte Begriff Anzahl ist sprachlicher Art. Die Natur zählt weder bewußt noch unbewußt. Nur soviel kann zugestanden werden, dass das tertium comparationis zwischen der Zahlenmetapher und den Kräften der Wirklichkeit, dass der Vergleichungspunkt zwischen beiden, den wir nicht kennen, besser gewählt ist als z. B. der Vergleichungspunkt zwischen dem Redeteil Substantiv und der Wirklichkeitskategorie des Dings. Wir kommen zu dieser Vermutung, weil die mathematischen Operationen mit Zahlen nicht so leicht zur Sinnlosigkeit führen wie die logischen Operationen mit anderen Redeteilen. Was freilich daher kommen kann, dass andere Worte schlechte Bilder der Wirklichkeitserinnerungen sind, Zahlworte aber ganz unwirklich, einzig und allein gute Bilder ihrer selbst. Zahlen sind in der Wirklichkeitswelt die einzigen Mannigfaltigkeiten, die sich streng systematisch ordnen lassen; aber nur darum, weil sie überhaupt nichts sind als ihr System. Aber die Geschichte der Zahlwörter wird uns doch auf einige Störungen in der Metapher dieses Redeteils aufmerksam machen.