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Der Differentialbegriff - Newton, Leibniz

Wollen wir den Zahlenaberglauben des Pythagoras mit dem neuesten mathematischen Aberglauben vergleichen und uns damit unserer eigentlichen Frage, was die Zahl sei, nähern, so müssen wir auf diejenige Erfindung eingehen, durch welche das gegenwärtige Rechnen sich grundsätzlich von dem Rechnen aller früheren Zeiten unterscheidet, auf die Differential- und Integralrechnung, die keine Entdeckung ist, sondern nur eine Erfindung, die mir aber den Beweis zu liefern scheint, dass wir für die Naturbetrachtung die Zahlen, die in der Natur nicht sind, nicht einmal als Krücken brauchen. Ich bin mir der gefährlichen Vermessenheit wohl bewußt, mit welcher ich ohne rechte Erfahrung im Differenzieren auf allgemeine Kenntnisse hin den Begriff sprachlich untersuchen will1; aber gerade die Mathematiker haben den Begriff, den sie doch erfunden haben, erkenntnistheoretisch wenig gefördert, und vielleicht übersieht derjenige eine Landkarte besser, der sie sich selbst für seine Zwecke vereinfacht hat. Wie zur Philosophie Platons niemand ohne einige Kenntnisse der Geometrie zugelassen werden sollte, so verlangt die Erkenntniskritik einige Vorstellungen von der höheren Analyse. Wer sich der jedoch ganz gewidmet hat, pflegt für erkenntniskritische Fragen keine Zeit übrig zu haben und den Differentialbegriff als ein unerklärliches Geschenk des Himmels zu betrachten, als ein Geheimnis der Natur, wie man einst die Zahlen ansah.

Ich habe vorhin gesagt, nach unserem Sprachgebrauch seien die Größenverhältnisse der Wirklichkeit durch Entdeckungen zu erfahren, die Zahlen jedoch, durch welche diese Verhältnisse bestimmt werden, durch Erfindungen zu messen. Wie sehr unser Rechnen mit dem dekadischen System eine Erfindung sei, erhellt vielleicht deutlich bis zur Lustigkeit aus der Art, wie (nach Pott) irgend ein wilder Volksstamm drei Menschen zu einer lebendigen Rechenmaschine nötig hat, wenn mehr als hundert Häute gezählt werden sollen. "Einer zählt dann an den Fingern die Einheiten, indem er von der linken Hand mit dem kleinen Finger beginnt und reihenweise an den Händen die Finger einen nach dem anderen streckt. Der zweite Mann beginnt ebenfalls mit dem kleinen Finger an der linken Hand der Reihe nach durch Ausstrecken der Finger die Zehner bis zum letzten Finger der rechten Hand, das ist bis zum kleinen Finger zu zählen. Der dritte Mann hat die Aufgabe durch Streckung der Finger die vollendeten Hunderter anzudeuten."

Si non è vero, è molto ben trovato. Stellte man den ersten Mann, den Einer-Mann, rechts auf, den zweiten, den Zehner-Mann, links neben den ersten und den dritten, den Hunderter-Mann, wieder einen Schritt weiter nach links, so besaß man eine Erfindung, die ziemlich genau der Rechenmaschine der Römer, überhaupt jedem Rechnen vor Erfindung der Null entsprach, dem Rechenbrett oder abacus, das — wie schon erwähnt — beinahe tausend Jahre im Abendlande benützt wurde, dann durch die arabische Rechenkunst verdrängt, endlich erst vor etwa hundert Jahren in den russischen Steppen wieder entdeckt und in französischen Schulen wieder eingeführt wurde. Die Erfindung des Rechnens mit dem dekadischen System ist bedeutend verbessert worden; schon das Rechnen mit Logarithmen wäre durch eine lebendige Rechenmaschine nur schwer darzustellen, und vollends die Differentialrechnung ist eine subtile Erfindung. Eine Erfindung ist sie dennoch. Was dem Differentialbegriff als Wirklichkeit zugrunde liegt, ist das Verhältnis zwischen veränderlichen Größen. Verhältnisse müssen entdeckt Werden, aber diese Verhältnisse lagen auch schon früher zugrunde, und dass der DifferentialbegrifE auf veränderliche Größen angewandt wird, während die bestimmten Zahlen für unveränderliche Größen zu genügen schienen, nimmt ihm nichts vom Charakter eines Instruments.

Dieses Instrument wurde gesucht und erfunden, als die führenden Geister Kepler, Galilei und Newton die Aufgabe lösen wollten, die geometrisch und zahlenmäßig berechneten Bahnen der Planeten physikalisch zu erklären durch Bewegung. Stellte man sich die Bahnen als fertige Ellipsen vor, so konnten sie nach altem Brauche durch Zahlen gemessen werden. Stellte man sich dieselben Bahnen als entstehend vor, erkannte man gar ihre Verwandtschaft mit den Bahnen geworfener irdischer Körper, so stand man vor minimalen Anfangsgeschwindigkeiten, vor minimalen Richtungsänderungen, und keine Zahl war klein genug, um unendlich kleine Räume, unendlich kleine Zeiten und unendlich kleine Geschwindigkeiten in der Rechnung zu vertreten. Die Notwendigkeit, eine unendlich kleine Einheit zur untersten Rechnungsgröße zu machen, ergab sich vor allem bei den minimalen Richtungsänderungen. Jeder Punkt einer Kurve war identisch mit dem Punkte seiner gradlinigen Tangente, und dennoch erzeugte die Bewegung des einen Punktes einmal eine gerade Linie, das andere Mal eine Kurve von bestimmten Verhältnissen. Dachte man sich den kurvenerzeugenden Punkt als eine Linie von unendlich kleiner Ausdehnung, so ergab er mit den dazu gedachten Abszissen- und Ordinatenveränderungen ein unendlich kleines rechtwinkliges Dreieck, das selbst wieder ein Punkt war, auf welches jedoch der Pythagoreische Lehrsatz anwendbar blieb. Die Linie von unendlich kleiner Ausdehnung drückte das Verhältnis von Abszisse und Ordinate aus. So konnten zum ersten Male, seitdem Menschen auf der Erde sich zum Maße aller Dinge gemacht hatten, die der Wirklichkeit zugrunde liegenden Verhältnisse gemessen werden, ohne dass Zahlen bemüht wurden. Denn die der Wirklichkeit zugrunde liegenden Verhältnisse sind immer Verhältnisse veränderlicher Größen. Alles fließt. Der DifferentialbegrifE war das Instrument für das zahlenlose Messen wirklicher Verhältnisse. Das Differential ist nicht mehr und nicht weniger als die minimale Einheit in den Naturvorgängen; so wenig es aber da eine wirkliche Einheit gibt, so wenig ist das Differential wirklich. Es ist durch geniale Mathematiker nach anstrengenden Verstandesoperationen in den Kalkül eingeführt worden; die einfachste Überlegung muß jedoch lehren, dass auch die Eins, die sprachlich so wohlbekannte Einheit unseres Zählens, ebenfalls nur durch einen genialen Kopf nach einer höchst abstrakten Verstandesoperation in die Rechnung, die freilich dadurch erst möglich war, eingeführt werden konnte. Die Integralen: Eine Sekunde, Eine Trillion, Eine Sprache, Eine Art, Ein Ton, Eine Farbe sind, wenn wir von unserer ererbten Sprachgewohnheit absehen, nicht weniger abstrakt als ein Differential. Das Differential ist ein so neuer, dem Altertum so gänzlich unbekannter Begriff wie das Telephon; Erfindungen sind beide. Newton erfand das Instrument als er es brauchte; und er brauchte es, weil das Bedürfnis nach diesem Instrument sich seit hundert Jahren langsam entwickelt hatte. Er sah vielleicht weniger klar als Leibniz den Unterschied zwischen dem Unendlichkleinen der antiken Mathematik und dem von ihm eingeführten Begriffe. Wenn die Griechen bei ihrer Quadratur des Zirkels die Exhaustionsmethode anwandten und nach ihr den Flächenunterschied zwischen dem dem Kreise um- und eingeschriebenen Unendlicheck als unendlich klein annahmen, so waren sie dabei weit von der Erfindung des Differentialbegriffs entfernt, weil sie nur die Fläche des fertigen Kreises ausrechnen, nicht aber die Entstehung des Kreises als Bewegung erklären wollten. Der Sinn des Differentialbegriffs ist aber in Newtons Ausdruck Fluxion metaphorisch gut ausgesprochen; er war dem Vorgänger Cavalieri entnommen; wenn die zu messende Wirklichkeit fließt, so ist die Bewegungseinheit oder Veränderungseinheit jeder minimale Akt des Fließens, die Fluxion. Leibniz dachte abstrakter, kühner, faßte rasch den Gedanken, dass die Differentialeinheit wirklicher sei als die Zahl, und wollte das Endliche durch die Intervention des Unendlichkleinen bestimmen. Man kann wohl sagen, dass Newton die Fluxion erfunden hat, dass Leibniz das Differential zu entdecken glaubte, das heißt dass Newton die Differentialveränderung mehr als ein Instrument auffaßte, Leibniz in ihr mehr eine Realität sah.


  1. Ich habe inzwischen, seit der Veröffentlichung der ersten Ausgabe, dem ehemaligen Autodidaktentum ein ordentliches Studium (bei J. Lüroth) folgen lassen dürfen; der verehrte Lehrer hat meiner alten Darstellung des Differentialbegriffs zugestimmt.