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Differentialänderung

Dieser Gegensatz geht seit zweihundert Jahren durch alle Versuche, den Differentialbegriff logisch zu begründen. Auf der einen Seite stehen diejenigen Begründungen, welche die höhere Mathematik auf die Elementarmathematik zurückführen möchten (was übrigens Newton und Leibniz selbst schon taten) und zu diesem Zwecke das Differential abwechselnd der Null gleich setzen und es als relative Null wieder in Rechnung stellen; Leibniz scheint diesen Gegensatz gelegentlich für einen Wortstreit zu halten, wenn er das Differential einmal als einen modus loquendi bezeichnet. Auf der anderen Seite steht die Empfindung, dass das Differential, richtiger die Differentialveränderung eine Realität sei, in der Darstellung von Hermann Cohen ("das Prinzip der Infinitesimal-Methode ) die einzige wirkliche Realität, die einzige intensive Größe, die einzige Zahl, welche nicht bloß Relativität besitzt. Man muß seine Vorstellung nur von dem naiven Realismus befreien, welcher die sinnliche Wahrnehmung zum Prüfstein der Realität macht, welcher schließlich auch noch Kant zwar in der Wirklichkeitswelt eine Erscheinung, das Ding-an-sich jedoch in etwas Handgreiflichem hinter der Realität erblicken läßt. Die Differentialänderung wird dadurch zur jüngsten Form des alten Steins der Weisen; sie ist das Perpetuum mobile (sie ist es wirklich), sie ist die Quadratur des Zirkels (sie leistet sogar die Quadratur aller Kegelschnitte), sie kann die sinnliche wie die geistige Welt erzeugen und kann zuletzt auf die Entstehung der einen Welt aus der anderen angewandt werden. Die Differentialänderung kann allein helfen, dem jetzt herrschenden Entwickelungsgedanken einst eine mathematische Unterlage zu geben. Uns freilich wird die Differentialänderung zugleich an das à peu près erinnern, welches wir in jedem Begriffe versteckt gefunden haben.