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Pythagoras

Dass der Zahlbegriff in seiner allgemeinen Bedeutung nur eine leere Abstraktion ist und nicht der Wirklichkeit angehört, dass das Wort Zahl z. B. in der Frage: "Wie groß ist die Zahl der Einwohner dieser Stadt?" nichts weiter will und kann als die Aufmerksamkeit darauf richten, die Antwort in Ziffern zu suchen und zu finden, das ist von selbst einleuchtend. Dass aber auch die einzelnen ganzen Zahlen, 1, 2, 3 usw. nicht der Wirklichkeit entsprechen, sich in der Natur nicht finden, sondern nur Erfindungen des menschlichen Verstandes sind, das ist einer noch genauern Betrachtung wert, weil die Naturwissenschaften gegenwärtig wie vor dritthalb Jahrtausenden wieder geneigt sind, die Zahl zum Urelemente der Naturvorgänge zu machen. Besäßen wir eine Geschichte des menschlichen Verstandes wie wir eine Geschichte der Dampfmaschine besitzen, so würde sich vielleicht eine lehrreiche Vergleichung zwischen dem heutigen und dem alten Zahlenaberglauben vornehmen lassen. Da wir aber von der Vorgeschichte unseres Verstandes nicht viel mehr wissen als der erwachende Mensch von seinen Traumzuständen im Mutterleibe, so kann ich darüber, was Pythagoras den Zahlen zuschrieb und was in dem gleichen Sinne die heutigen Chemiker den Zahlen zuschreiben, nur Vermutungen aufstellen.

Es trifft sich für diese Vermutungen nett, dass der Name des alten Philosophen an den überaus wichtigen Pythagoreischen Lehrsatz geknüpft ist. Diese Verknüpfung beweist, dass Pythagoras entweder selbst das interessante Verhältnis zwischen den Dreieckseiten zuerst bewiesen hat oder dass er es doch war, der diese Entdeckung in Griechenland bekannt machte. Jedesfalls zeigt sie, dass Pythagoras ein Mathematiker war, bevor er aus den Zahlen eine Art Religion machte. Wir stehen mit Pythagoras sichtbarlich in einer Zeit, die vor Freude über die neuentdeckten Zahlenverhältnisse in Mathematik und Geometrie außer sich geraten war. Wir können etwas von dieser Freude heute noch bei mathematisch veranlagten Kindern beobachten, wenn sie in der Schule zum ersten Male die erstaunlichen Verhältnisse kennen lernen, in welche z. B. die teilbaren Zahlen oder Hypotenuse und Katheten zueinander stehen. Dass man aus der Summe der Ziffern sofort erkennen kann, ob eine vielsteilige Zahl durch 9 teilbar ist oder nicht, das ist die Folge eines Verhältnisses, das in unserem dekadischen System begründet ist; die Entdeckung dieses Verhältnisses macht dennoch Vergnügen. Das Verhältnis, welches im Pythagoreischen Lehrsatz ausgesprochen ist, mag eine Folge des uns geläufigen, uns von den Zufallsinnen gebotenen Raumsystems sein, seine Entdeckung mußte dennoch eine außerordentliche Freude hervorrufen. Es war offenbar, es gab in der Natur Zahlenverhältnisse.

Der Standpunkt der damaligen Mathematik konnte diese Verhältnisse gar nicht anders ausdrücken als durch die Zahlen. Die Verhältnisse schienen in den Zahlen selbst zu liegen. Die Zahlen sind Worte, scheinbar Worte wie andere Begriffsworte auch. So war es nur eine Äußerung des uns wohlbekannten Wortaberglaubens, wenn im ersten Rausche mathematischer Entdeckerfreude den Zahlworten mystische Eigenheiten beigelegt wurden.

Man nehme dazu den kindlichen Wortaberglauben der Welterklärungsversuche, die sich damals Philosophie nannten. Auch Anaximander und Thaies glaubten etwas dabei zu denken, wenn sie das Unendliche oder das Wasser für den Ursprung aller Dinge erklärten. Ich neige überdies zu der Überzeugung, dass wir niemals werden erfahren können, was die Philosophen vor Piaton sich bei den vereinzelten Schlagworten gedacht haben mögen, die von ihnen überliefert sind. Man stelle sich vor, Darwin hätte nie eine Zeile geschrieben. Wir erführen über ihn bloß, was seine Enkelschüler gelegentlich und irrtümlich auf ihn zurückführen, und es bliebe eines Tages von dem ganzen Lebenswerke Darwins nichts übrig als das Schlagwort "der Mensch stammt vom Affen ab"; das Einzige, was wir dann von ihm wüßten, wäre etwas, was er nie gesagt hat. Nietzsches Kritik der Notizensammlung des Diogenes Laertius ist nur philologisch, darum nicht sachlich radikal.

Mühsam können wir uns aus einigen solchen aufbewahrten Schlagworten nur die Gewißheit verschaffen, Pythagoras habe gelehrt: 1. Die Zahlen sind die Ursache der Wirklichkeit, die wirklichen Dinge seien nur Nachahmungen oder Symbole der Zahlen; 2. die Zahlen sprechen nur Verhältnisse zur Einheit aus, es ist also die Eins der Anfang oder der Ursprung aller Dinge; 3. da die Zahlen älter sind als die Natur, da sie die Natur erst gemacht haben, so kann man die Natur und die Zukunft nur aus den Elementen, das ist den Zahlen erkennen; Zahlenharmonien verkünden eine günstige Chance (kairos), die Heiligkeit der Zahl 10 z. B. verbürgt, dass es zehn bewegliche Himmelskörper geben müsse usw.