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Wie ein russischer Theatererfolg aussieht

Die Theaterkritik, in Europa eine Methode, das Publikum zu beeinflussen, ist in Rußland ein Mittel, es zu organisieren. Ich habe mich über diese Funktion der Theaterkritik in Moskau mit einem, der davon wissen muß, unterhalten. Vielleicht war es weniger eine Unterhaltung, als ein Austausch prägnanter Erfahrungen. Mir kam es jedenfalls nicht auf eine exotische Farbe mehr im Bilde des Moskauer Geisteslebens an, sondern auf einen möglichst genauen Einblick darein, wie ein Theatererfolg in Moskau aussieht. Niemand weiß das besser als mein Partner, Bill' Belozerkowsky, der Verfasser des »Sturm«. »Sturm« war nicht nur der größte Erfolg in der sowjetrussischen Theatergeschichte, es war zugleich der erste, der mit einem rein politischen Drama errungen wurde. Im übrigen hat er mit vielen westeuropäischen jedenfalls dies gemein, daß die Fachleute von einem Durchfall felsenfest überzeugt waren. Ich selbst habe Belozerkowskys Stück vor mehreren Jahren in Moskau gesehen. »Sturm« ist eine Szenenfolge, die die Revolution in der Kleinstadt schildert. Wie hat man nun die Energien, die jeder große Theatererfolg enthält, und die bei uns so oft im Amüsiertrieb verpuffen, in Moskau zu verwerten gewußt? Daß nämlich eine Verwertung stattfand, ist am Resultat zu beweisen. Im »Sturm« setzt der neue russische Naturalismus ein, den man Naturalismus weniger des Milieus und der Psychologie, als der politischen Augenblickssituation nennen könnte. Um das vorweg zu nehmen: der Anteil der professionellen Theaterkritik an diesem Vorgang war verschwindend. Es gibt keine prominenten Feuilletonkritiker in Rußland, jedenfalls nicht fürs Theater. Das ist kein Zufall. Warum es ihn nicht gibt, haben wir bald begriffen. Schwerlich sind irgendwo im literarischen Betrieb politische Spannungen offenkundiger als im Theater. Das Massenpublikum bringt sie zum Ausdruck. In einem ohnehin durchdringend politisierten Lande wie Rußland wäre es für den Einzelnen aussichtslos, kraft seiner bloßen Eigenschaft als Rezensent diese Energien leiten zu wollen. Daher geschieht es wohl, daß hin und wieder an wichtigen Wendepunkten die großen Theoretiker selbst das Wort ergreifen, Bucharin etwa in der »Prawda« sich zu einer Meyerholdschen Inszenierung äußert; das hat dann Einfluß. Aber die journalistische Theaterkritik hat kaum welchen. An ihre Stelle tritt die Artikulation des anfangs eruptiven wortlosen Massenurteils. Nach Schluß der ersten Vorstellung bleibt das Theater noch ein, zwei Stunden geöffnet, und es finden an Ort und Stelle sogleich Debatten über den Abend statt. Das ist keine Premierensensation. Das Bestreben, den Eindruck festzuhalten, klarzustellen, zu beleben, hat sich organisiert und zu den Enqueten geführt, die allabendlich über die wesentlichsten Stücke veranstaltet werden. Die Rubriken der Fragebogen, auf denen die Besucher sich äußern, sind je nach dem Theater und nach dem Stück verschieden und reichen von den primitivsten Fragen: »Wie hat das Stück Ihnen gefallen?« bis zu subtileren: »Wie würden Sie das Stück haben enden lassen?« Zu schweigen von den ideologisch-ästhetischen Fragestellungen, von den Urteilen über Schauspieler und Regie. Namentliche Unterschrift ist nicht erforderlich, aber auf dem Fragebogen soll vermerkt werden, welcher Klasse der Ausfüllende sich zurechnet. Auszüge aus solchen Enqueten werden in den Zeitschriften der verschiedenen Theater veröffentlicht. Aber auch hierin hat man nicht den endgültigen Niederschlag der öffentlichen Kritik zu suchen. Den bilden vielmehr die Berichte der Arbeiterkorrespondenten, der sogenannten Rabkorr, die im Namen der Fabrikzellen in den Tagesblättern, Gewerkschafts-, Fabrikorganen usw. zu aktuellen Fragen das Wort ergreifen. Davon gibt es zur Zeit in Moskau 1200. Ihre Stellungnahme kann ausschlaggebend sein, dies aber wieder nur darum, weil sie öffentlicher Kontrolle zugänglich ist. Die Rabkorr veranstalten in ihrem eigenen Wirkungskreis Diskussionen – sogenannte »Gerichtsverhandlungen« über das Stück –, zu denen dann wiederum das Theater, vor allem der Dichter, geladen wird. Hier hat er Gelegenheit, unmittelbar vor dem Arbeiterpublikum seine Gedanken zu entwickeln, um neue Anregung zu empfangen. Der Einfluß der Rabkorr, ihre Agitation für oder gegen ein Stück, ist schließlich so groß geworden, daß manches Theater es vorgezogen hat, ehe es mit der Probe beginnt, sich mit ihnen ins Einvernehmen zu setzen. Natürlich hat ihr Veto keine ausschlaggebende Bedeutung, meist aber bemüht man sich, in der Form eines Kompromisses von vorne herein ihrer Kritik entgegen zu kommen.