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Gespräch mit André Gide

Es ist schön, André Gide in seinem Hotelzimmer zu sprechen. Ich weiß, daß er ein Landhaus in Cuverville und eine Wohnung in Paris hat, und gewiß wäre der Eindruck unvergeßlich, ihm unter seinen Büchern an den Stätten zu begegnen, wo er Großes geplant und durchgeführt hat. Aber es wäre nicht dies: diesen großen Reisenden inmitten seiner gebündelten Habe, omnia sua secum portans, in wehrhafter Bereitschaft im hellen Vormittagslicht seines geräumigen Zimmers am Potsdamer Platz anzutreffen. Zugestanden: das Interview, eine Form, die Diplomaten, Finanziers, Filmleute sich geschaffen haben, ist auf den ersten Blick nicht die, in der ein Dichter, der differenzierteste unter den lebenden, sich zu erkennen gibt. Sieht man genauer zu, so steht es doch anders. Rede und Antwort artikulieren wie Schlaglicht das Gidesche Denken. Ich vergleiche es einem Fort: so unübersehbar im Aufbau, voller eingezogener Umwallungen und ausfallender Bastionen, vor allem so formstreng und so vollendet im Aufbau seiner dialektischen Zweckmäßigkeit.

So viel weiß auch der letzte Amateur, daß es gefährlich und mit Weiterungen verbunden ist, Aufnahmen in der Nähe von Forts zu machen. Papier und Bleistift mußten beiseite bleiben, und wenn die folgenden Worte authentisch sind, so danken sie es der Schärfe der leisen, begeisteten Stimme, von der sie kamen.

Kaum eine der Fragen, die mehr aus Routine denn aus Anteil in einem Interview gewöhnlich auftauchen, hatte ich Gide zu stellen. Denn wie er da vor mir auf einer Stufe seines Erkers saß, den Rücken gegen den Sitz eines Sessels gelehnt, einen braunen Foulard um den Hals und die Hände über den Teppich ausgreifend oder gesammelt ums Knie geschlungen, ist er sich selber Frager und Sprecher genug. Ab und zu fällt sein Blick aus der deutlichen Hornbrille auf mich, wenn eine der seltenen Fragen sein Interesse erregt hat. Sein Gesicht zu betrachten ist faszinierend, sei es auch nur, um dem wechselnden Spiel von Malice und Güte zu folgen, von denen man zu sagen versucht ist, daß beide die gleichen Falten bewohnen, geschwisterlich in seine Miene sich teilen. Und es sind nicht die schlechtesten Augenblicke, wenn die reine Freude an einer malitiösen Anekdote seine Züge erleuchtet.

Es gibt heute keinen europäischen Dichter, der den Ruhm, als er endlich, gegen Ende der Vierziger, kam, ungastlicher bei sich empfangen hätte. Keinen Franzosen, der gegen die Académie Française sich fester verschanzt hätte. Gide und D'Annunzio – man braucht die Namen nur nebeneinander zu stellen, um zu erkennen, was einer für und gegen den Ruhm vermag. »Wie setzen Sie sich mit dem Ihren auseinander?« Und nun erzählt Gide, wie wenig er ihn gesucht, wem er es dankte, daß er ihn dennoch eines Tages fand, und wie er sich dagegen zur Wehr setzt.

Bis 1914 war er der festen Überzeugung, er werde erst nach seinem Tode gelesen werden. Das war nicht Resignation, das war Vertrauen in den Bestand und die Kraft seines Werkes. »Mir sind, seit ich zu schreiben begann, Keats, Baudelaire, Rimbaud darin ein Vorbild gewesen, daß ich, wie sie, nur meinem Werk, nichts anderm, meinen Namen danken wollte.« Wenn ein Dichter einmal diesen Posten bezogen hat, dann ist es nichts Seltenes, daß ein Feind eingreift, Bileams Esel. Das war für Gide Henri Béraud, der Romancier. Er hat dem französischen Zeitungsleser so lange versichert, daß es nichts Dümmeres, Langweiligeres und Verderbteres als die Bücher von André Gide gäbe, bis die Leute schließlich aufmerksam wurden und fragten: Wer ist denn eigentlich dieser André Gide, den die anständigen Leute um keinen Preis lesen dürfen? Als einmal viele Jahre später Béraud in einem seiner Ausbrüche schrieb, zu allem andern sei dieser Gide auch noch undankbar gegen seine Wohltäter, da schickte der Dichter, um diesen herben Vorwurf zu entkräften, Béraud die schönste Schachtel Pihan-Schokolade. Dabei ein Kärtchen mit den Worten: »Non, non, je ne suis pas un ingrat.«

Was den Gegnern des frühen Gide am meisten wider den Strich ging, war die Erkenntnis, daß man im Ausland Gide beachtenswerter fand als sie selber. Das gibt, so dachten sie, einen ganz falschen Eindruck. Und in der Tat, vom Durchschnitt der Pariser Romanfabrikation hätten ihre eigenen Bücher einen richtigeren gegeben. Gide ist früh bei uns übertragen worden und bleibt seinen ersten Übersetzern, Rilke bis zu seinem Tode, Kassner und Blei noch heute, in Freundschaft verbunden. So stehen wir bei der aktuellen Frage der Übersetzung. Gide selbst ist als Übersetzer für Conrad eingetreten, hat als Übersetzer mit Shakespeare sich auseinandergesetzt. Von seiner meisterhaften Übertragung von Antonius und Cleopatra wußten wir. Nun ist vor kurzem Pitoëff, der Direktor des Theatre de l'Art, mit der Bitte an ihn herangetreten, den Hamlet zu übersetzen. »Monate hat mich der erste Akt gekostet. Als er fertig war, schrieb ich an Pitoëff: Ich kann nicht mehr, es nimmt mich zu sehr hin.« »Aber Sie werden den Akt publizieren?« »Vielleicht, ich weiß es nicht. Augenblicklich ist er verloren. Irgendwo unter meinen Papieren in Paris oder Cuverville. Ich bin so viel auf Reisen, ich kann nichts ordnen.« Nicht ohne Absicht lenkt er nun das Gespräch auf Proust. Er weiß um das deutsche Übersetzungsunternehmen, kennt auch die dunklen Blätter in dessen Geschichte. Desto freundlicher seine Hoffnung auf deren günstigen Ausgang. Und weil es eine Erfahrung ist, daß bei allen, die sich näher mit Proust befaßten, diese Beziehung einen phasenhaften Verlauf nahm, so wage ich die Frage nach der seinen. Sie macht von diesem Gesetz keine Ausnahme. Der junge Gide ist Zeuge der unvergessenen Zeit gewesen, da Proust, der blendende Causeur, in den Salons aufzutreten begann. »Ich habe ihn, wenn wir uns in Gesellschaft begegneten, für den rabiatesten Snob gehalten. Ich glaube, er wird mich nicht anders eingeschätzt haben. Keiner von beiden ahnte damals die nahe Freundschaft, die uns verbinden sollte.« Und als dann eines Tages der meterhohe Stoß von Heften auf dem Verlagsbureau der NRF eintraf, war zunächst alles fassungslos. Nicht gleich wagte sich Gide in diese Welt zu versenken. Als er es aber begonnen, da erlag er ihrer Faszination. Seitdem ist Proust ihm einer der größten unter allen Bahnbrechern dieser jüngsten Eroberung des Geistes: der Psychologie.

Auch dies Wort wieder eine Tür zu einer der unabsehbaren Galerien, in deren Fluchten sich der Blick, wenn man mit Gide spricht, beinah zu verlieren droht. Psychologie die Ursache vom Untergang des Theaters. Das psychologische Drama sein Tod. Psychologie der Bereich des Differenzierten, Isolierenden, Dekonzertierenden. Das Theater der Bereich der Einhelligkeit, der Verbundenheit, der Erfüllung. Liebe, Feindschaft, Treue, Eifersucht, Mut und Haß – dem Theater sind das alles Konstellationen, absehbare, vorgegebene Aufrisse, das Gegenteil von dem, was sie der Psychologie sind, deren Einsicht in der Liebe Haß, im Mut Feigheit entdeckt. »Le théatre c'est un terrain banal.«

Wir kommen auf Proust zurück. Gide entwirft die nun schon klassisch werdende Schilderung von diesem Krankenzimmer, diesem Kranken, der da im ständig verdunkelten Gemach, das, um Geräusche abzuhalten, ringsum mit Kork ausgelegt, – selbst seine Fensterläden waren mit Polstern gefüttert – nur selten Besucher sah, auf seinem Bette, ohne Unterlage, von Haufen vollgekritzelten Papiers umtürmt, schrieb, schrieb, noch seine Korrekturen, statt sie zu lesen, mit Zusätzen überdeckte »bien plus que Balzac« (noch mehr als Balzac). Bei aller Bewunderung aber spricht Gide es aus: »Ich habe mit seinen Menschen keinen Kontakt. Vanité, – das ist der Stoff, aus dem sie gemacht sind. Ich glaube, in Proust hat vieles gelegen, was er nicht zum Ausdruck gebracht hat, Knospen, die sich nie haben erschließen können. In seinem späteren Werk hat eine gewisse Ironie die Oberhand über das Moralische und Religiöse gewonnen, das in den frühen Schriften vernehmbar ist.« Auch scheint es, als erkenne der Dichter eine von Ironie bisweilen verhüllte Zweideutigkeit des Proustschen Wesens in einem Grundzug seiner Technik, seiner Komposition. »Man spricht von Proust dem großen Psychologen. Gewiß, er war es. Wenn man aber so oft darauf hinweist, wie kunstvoll er es verstünde, den Wandel seiner Hauptfiguren in der Folge ihres Lebens darzustellen, so übersieht man vielleicht das Eine: Jede seiner Figuren, bis zur kleinsten herab, ist nach einem Modell gearbeitet. Dieses Modell aber blieb nicht immer dasselbe. Für Charlus zum Beispiel waren es sicher zumindest zwei; dem Charlus der letzten Epoche hat ein ganz anderer zum Vorbild gedient als dem stolzen der ersten.« Gide spricht von Surimpression, von einem »fondu«. Wie im Film verwandelt sich eine Person allmählich in eine andere.

»Ich kam«, sagt Gide am Ende einer Pause, »um eine conférence zu halten. Doch das Berliner Leben hat mir nicht Ruhe zu dem gelassen, was ich eigentlich vorhatte. Ich komme wieder. Dann werde ich meine conférence mitbringen. Aber heute schon möchte ich Ihnen über mein Verhältnis zur deutschen Sprache einiges sagen. Nach langer, intensiver und ausschließlicher Beschäftigung mit dem Deutschen – sie fiel in die Jahre meiner Freundschaft mit Pierre Louys, und wir lasen zusammen den zweiten Faust – habe ich zehn Jahre lang die deutschen Dinge links liegen gelassen. Das Englische nahm all meine Aufmerksamkeit gefangen. Im vorigen Jahr nun, im Kongo, schlug ich endlich wieder ein deutsches Buch auf, es waren die Wahlverwandtschaften. Da machte ich eine merkwürdige Entdeckung. Mit dem Lesen ging es nach dieser zehnjährigen Pause nicht schlechter, sondern besser. Es ist« – hier insistiert Gide – »nicht die Verwandtschaft zwischen Deutsch und Englisch, was mir die Sache leichter werden ließ. Nein, eben dies, daß ich von meiner eigenen Muttersprache abgestoßen hatte, das gab mir den Elan, mich einer fremden zu bemächtigen. Beim Sprachenlernen ist nicht das Wichtigste, welche man erlernt; die eigene zu verlassen, das ist ausschlaggebend. Auch versteht man sie im Grunde erst dann.« Gide zitiert einen Satz aus der Reiseschilderung des Seefahrers Bougainville: »Als wir die Insel verließen, gaben wir ihr den Namen Ile du Salut.« Und daran schließt er nun den wunderbaren Satz: »Ce n'est qu'en quittant une chose que nous la nommons.« (Erst dem, wovon wir scheiden, geben wir einen Namen.)

»Wenn ich«, so fährt er fort, »die Generation, die mir folgte, in Einem beeinflußt habe, so darin, daß nun die Franzosen beginnen, für fremde Länder und fremde Sprachen ein Interesse zu zeigen, wo früher Gleichgültigkeit, Indolenz herrschte. Lesen Sie den »Voyage de Sparte« von Barrès, und Sie werden wissen, wie ich es meine. Was Barrès in Griechenland sieht, ist Frankreich, und wo er Frankreich nicht sieht, da will er nichts gesehen haben. So sind wir denn unversehens bei einem der Gideschen Lieblingsthemen: Barrès. Seine Kritik der »Déracinés« von Barrès, die nun schon dreißig Jahre zurückliegt, war mehr als eine scharfe Ablehnung dieses Epos der Bodenständigkeit. Sie war das meisterhafte Bekenntnis des Mannes, der saturierten Nationalismus nicht gelten läßt und das französische Volkstum nur da erkennt, wo es den Spannungsraum der europäischen Geschichte und der europäischen Völkerfamilien in sich beschließt.

»Die Entwurzelten« – Gide hat nur liebenswürdigen Spott für eine dichterische Metapher, die so ganz an der wahren Natur vorbeigeht. »Ich habe immer gesagt, es ist schade, daß Barrès die Botanik gegen sich hat. Als ob der Baum sich beschränke, nicht vielmehr mit allen Ästen triebhaft ins Weite, in den Luftraum hinaus greift. Es ist ein Unglück, wenn Dichter nicht den leisesten Begriff von Naturwissenschaft haben.« Vor mir sitzt der Mann, der einmal geschrieben hat: »Ich will es nur noch mit der Natur zu tun haben. Ein Gemüsewagen befördert mehr Wahrheit als die schönsten Perioden des Cicero.« Auch jetzt hält dieser Bilderkreis den Dichter fest. »Ich sprach vorhin von Proust, wieviele seiner Knospen unentwickelt blieben. Bei mir war es anders. Ich will, daß alles, was ich mitbekommen habe, an den Tag kommt, seine Form finde. Das hat vielleicht einen Nachteil gehabt. Mein Werk hat etwas vom Gebüsch, aus dem nicht leicht meine entscheidenden Züge sich herauslösen. Hierin gedulde ich mich. ›Je n'écris que pour être relu.‹ (Ich schreibe nur, um wiedergelesen zu werden.) Ich zähle auf die Zeit nach meinem Tode. Erst der Tod wird die Figur aus dem Werk heraustreiben. Dann wird dessen Einheit unverkennbar werden. Allerdings: Leicht habe ich sie mir nicht werden lassen. Ich weiß, es gibt Dichter, die von Anfang an nur immer enger sich zu beschränken trachten. Ein Mann wie Jules Renard ist nicht durch Entfaltung, sondern durch rücksichtsloseste Beschneidung seiner Triebe zu dem gekommen, was er darstellt. Und das ist nicht wenig. Kennen Sie seine Tagebücher? Eines der interessantesten Dokumente ... Aber so etwas kann bisweilen skurrile Züge annehmen. Mir geht es ganz anders. Ich weiß, wie quälend meine erste Begegnung mit Stendhals Büchern ausfiel, wie feindlich mich diese Welt zuerst ansprach. Gerade deshalb fühlte ich mich von ihr passioniert. Später habe ich viel von Stendhal gelernt.« Gide ist ein großer Lernender gewesen. Vielleicht hat, wenn man näher zusieht, gerade das vor fremdem Einfluß ihn weit entschiedener bewahrt, als störrische Verschlossenheit es vermocht hätte. »Beeinflußt« ist am meisten der Träge, während der Lernende früher oder später dazu gelangt, Dessen sich zu bemächtigen, was am fremden Schaffen ihm das Dienliche ist, um es als Technik seinem Werke einzugliedern. In diesem Sinne gibt es wenige Autoren, die mehr und hingegebener lernten als Gide. »Ich ging in jeder Richtung, die ich einmal einschlug, bis zum Äußersten, um sodann mit derselben Entschiedenheit der entgegengesetzten mich zuwenden Zu können.« Dies grundsätzliche Verneinen jeder goldenen Mitte, dieses Bekenntnis zu den Extremen, was ist es anderes als die Dialektik, nicht als Methode eines Intellekts, sondern als Lebensatem und Passion dieses Mannes. Gide will mir, wie es scheint, nicht widersprechen, wenn ich den Grund für alles Unverständnis und für manche Feindschaft, die ihm begegneten, hier vermute. »Es gilt«, erklärt er weiter, »vielen für ausgemacht, ich könne immer nur mich selber zeichnen, und wenn dann meine Bücher die verschiedenartigsten Figuren ins Spiel setzen, dann schließt ihr Scharfsinn: Wie charakterlos, schwankend und unzuverlässig muß der Verfasser sein.«

»Integrieren«, das ist Gides denkerische und darstellerische Leidenschaft. Das wachsende Interesse an ›Natur‹ – als Lebensrichtung der Reife bei vielen Großen bekannt – will bei ihm heißen: Die Welt ist auch in den Extremen noch ganz, noch gesund, noch Natur. Und was ihn diesen Extremen zutreibt, das ist nicht Neugier oder apologetischer Eifer sondern höchste dialektische Einsicht.

Man hat von diesem Manne sagen können, er sei der »poète des cas exceptionels«, der Dichter der Ausnahmefälle. Gide: »Bien entendu, so ist es. Aber warum? Wir stoßen Tag für Tag auf Verhaltungsweisen, auf Charaktere, die durch ihr bloßes Dasein unsere alten Normen außer Kurs setzen. Ein großer Teil unserer alltäglichsten wie unserer außerordentlichsten Entscheidungen entzieht sich der überkommenen sittlichen Wertung. Und weil dem so ist, tut es not, solche Fälle zunächst einmal aufzunehmen, genau, ohne Feigheit und ohne Zynismus.« Was immer Gide zum Studium dieser Dinge in Romanen wie den »Faux-Monnayeurs«, in Essays, in seiner bedeutenden Autobiographie »Si le grain ne meurt« geschrieben hat, seine Gegner würden es ihm vergeben, wäre darin nur der kleine Schuß von Zynismus, der die Snobs und die Spießer mit allem aussöhnt. Was ihnen auf die Nerven geht, ist nicht die »Unmoral«, sondern der Ernst. Der aber ist Gide unveräußerlich bei aller Malice seiner Konversation und aller souveränen Ironie, wie sie im »Prométhée mal enchaîné«, in den »Nourritures terrestres«, in den »Caves du Vatican« zum Durchbruch kommt. Er ist, wie Willy Haas es dieser Tage aussprach, der für den Augenblick letzte Franzose vom Schlage Pascals. In der Linie der französischen Moralisten, die mit La Bruyère, La Rochefoucauld, Vauvenargues sich fortsetzt, ist ihm keiner verwandter als eben Pascal. Ein Mann, den sie im 17. Jahrhundert, wenn es die oberflächliche klinische Terminologie unserer Zeit schon gekannt hätte, ganz gewiß einen »cas particulier«, einen Kranken, genannt haben würden. Gerade damit steht Gide wie Pascal in der Reihe der großen Erzieher Frankreichs. Für den eigenbrötelnden, eingezogenen, verkauzten Deutschen wird immer das Vorbild, die erzieherische Figur schlechthin, der sein, der in Gestalt oder Lehre den deutschen Typus, wie heute Hofmannsthal und Borchardt es versuchen, herausstellt. Den Franzosen aber, die, im Volkscharakter reich und vielfältig nach Stämmen geschieden, in ihren nationalen und literarischen Tugenden stärker, prekärer als sonst ein Volk standardisiert sind, ist der große Ausnahmefall, der moralisch durchleuchtete, höchste erzieherische Instanz. Der ist Gide. Dies Antlitz, in dem bisweilen der große Dichter mehr sich verbirgt als verrät, kehrt unablenkbar seine drohend gesammelte Front der moralischen Indifferenz und dem laxen Genügen entgegen.